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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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und urteilte? Nun, er war ein Hohepriester, nicht daran ge wöhnt, vor jemand anderem als seinem Gott niederzuknien. Vielleicht sollte man ihm Zugeständnisse machen. Außerdem war sein Angebot überaus großzügig, das Mädchen vielleicht die Hälfte wert, und es empfahl sich, einen Priester nicht zu verprellen. Dass er von Unrecht sprach, war zwar heikel, jedoch nicht von der Hand zu weisen. Sie hätte gar nicht erst entführt werden dürfen . Sogar Diomedes und Odysseus nickten beipflichtend, und Menelaos schien sich dahingehend äußern zu wollen.
    Doch Agamemnon kam ihm zuvor. Breit wie ein Bär, richtete er sich zornig auf.
    »Spricht so ein Bettler? Du kannst von Glück sagen, dass ich dich nicht auf der Stelle niederstrecke. Ich führe den Oberbefehl über dieses Heer«, blaffte er. »Es steht dir nicht zu, vor meinen Männern den Mund aufzumachen. Aber höre meine Antwort. Sie lautet: Nein. Es gibt keinen Freikauf. Sie ist mein Preis, und ich gebe sie nicht her, weder jetzt noch später. Schon gar nicht für diesen billigen Ramsch.« Er drohte dem Priester mit einer Geste, ihn zu erwürgen. »Verschwinde und wage es nicht, dich noch einmal in meinem Lager blicken zu lassen, Priester . Auf deine Bänder und dein Amt werde ich in Zukunft keine Rücksicht nehmen.«
    Chryses biss die Zähne aufeinander, ob aus Angst oder weil er eine Entgegnung zurückzuhalten versuchte, war nicht auszumachen. Seine Augen brannten voller Bitterkeit. Abrupt drehte er sich um, stieg, ohne ein weiteres Wort zu sagen, vom Podest und ging in Richtung Strand, gefolgt von seinen Gehilfen mit der Truhe.
    Noch lange schaute ich dem Gedemütigten nach, während in meinem Rücken heftige Debatten laut wurden. Später erfuhr ich von Männern, denen er am Strand entgegengekommen war, dass er geweint und den erhobenen Stab gen Himmel geschwungen hatte.
    Wie eine Schlange, schnell und lautlos, beschlich das Lager noch in derselben Nacht die Seuche.
    Am Morgen sahen wir die Maultiere am Boden liegen, augenrollend und mit gelbem Schaum vor den Mäulern. Gegen Mittag fingen die Hunde zu winseln an. Roter Schleim troff von den hechelnden Zungen. Am späten Nachmittag waren die meisten Tiere tot, und was noch lebte, krepierte zitternd in Pfützen aus blutigem Auswurf.
    Machaon, Achill und ich beeilten uns, die Kadaver zu verbrennen, um zu verhindern, dass ihre Fäulnis auf unser Quartier übergriff. Zurück im Lager, schrubbten wir die Haut mit dem rauen Salzwasser des Meeres und wuschen uns danach im Bach, der durch den Wald strömte. Die beiden Flüsse Simoeis und Skamander, aus denen wir unser Trinkwasser bezogen, mieden wir wohlweislich.
    Als wir später auf der Pritsche lagen und uns flüsternd miteinander unterhielten, lauschten wir bangend darauf, ob auch unsere Kehlen bereits Eiter absonderten, was aber nicht der Fall zu sein schien. Und so wiederholten wir wechselseitig und wie in murmelndem Gebet, was wir von Cheiron zum Schutz vor Seuchen gelernt hatten.
    Am nächsten Tag waren die ersten Männer befallen. Dutzende krümmten sich vor Schmerzen und brachen zusammen. Ihre Augen traten hervor, und aus aufgebrochenen Lippen rann Blut in dünnen Rinnsalen. Unter Mithilfe von Podaleirios und schließlich auch Brisëis schafften wir die Toten fort, die so jählings fielen wie von einem Speer oder Pfeil getroffen.
    Am Rand des Lagers füllte sich ein Feld voll siechender Männer, die nach Wasser schrien und sich die Kleider vom Leib rissen, weil sie innerlich zu verbrennen glaubten. Bald platzten ihnen eitrige Beulen auf, und ihre Haut gab nach wie sprödes Gewebe. Wenn sie nach heftigem Todeskampf endlich erschlafft waren, lagen sie ausgestreckt im Schlamm ihres letzten Grauens: der dunklen, mit Blutklumpen vermischten Ausscheidung ihrer Gedärme.
    Wir errichteten Scheiterhaufen um Scheiterhaufen und verbrannten die Toten mitsamt den Kleidern, die sie getragen hatten, erst einzeln, wie es sich schickte, dann aber in Haufen. Wir hatten nicht die Zeit, ihnen das letzte Geleit nach Anstand und Sitte zu geben.
    Schließlich halfen uns auch die meisten Könige, allen voran Menelaos. Ajax spaltete ganze Bäume mit einem einzigen Axthieb, um die vielen Feuer zu versorgen. Diomedes und seine Männer durchsuchten die Zelte und fanden weitere Tote darin, und auch Männer, die zitternd und fiebernd im Sterben lagen, versteckt gehalten von ihren Freunden, damit man nicht auch sie auf den Scheiterhaufen warf.
    Agamemnon zeigte sich kein einziges Mal.
    Nach

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