Das Lied des Achill
»Gute Nacht«, sagte er.
»Gute Nacht.« Von mir ausgesprochen, fühlten sich die Worte fremd an, fast wie eine andere Sprache.
Zeit verstrich. Im Mondlicht konnte ich auf der anderen Seite der Kammer sein Gesicht erkennen, vollkommen, als hätte es ein Bildhauer aus Stein gemeißelt. Der Mund war ein wenig geöffnet, ein Arm lag auf der Stirn. Im Schlaf sah er ganz anders aus, wunderschön, aber seltsam kalt. Ich wünschte, er würde aufwachen, so dass wieder Leben in ihn zurückkehrte.
Am nächsten Morgen suchte ich nach dem Frühstück mein Lager im Schlafsaal auf, denn ich dachte, dass man meine Sachen zurückgebracht habe. Doch dem war nicht so. Stattdessen war das Laken entfernt worden. Nach dem Mittagessen schaute ich erneut nach, nach dem Speertraining und am Abend abermals, aber mein altes Bett blieb leer und unbezogen. Zaghaft machte ich mich auf den Weg in seine Kammer, darauf gefasst, von einem Sklaven aufgehalten zu werden, was jedoch nicht geschah.
Vor der Schwelle zögerte ich. Ich sah ihn wie am ersten Tag auf seinem Bett faulenzen, ein Bein zur Seite weggestreckt.
»Hallo«, sagte er. Hätte er sich überrascht gezeigt, wäre ich sofort wieder zurück in den Schlafsaal gegangen. Aber sein Gruß klang aufgeschlossen, und er musterte mich mit freundlichem Blick.
»Hallo«, entgegnete ich und ging zu meinem Lager auf der anderen Seite der Kammer.
Allmählich gewöhnte ich mich daran. Ich zuckte nicht mehr vor Schreck zusammen, wenn er sprach, fürchtete nicht länger, zurechtgewiesen oder fortgeschickt zu werden. Nach dem Abendessen ging ich wie selbstverständlich in seine Kammer und betrachtete das Lager, auf dem ich schlief, als das meine.
Nachts träumte ich immer noch von dem toten Jungen. Doch wenn ich dann schweißgebadet erwachte, leuchtete der Mond über dem Meer und ich hörte das Rauschen der Brandung. Im Halbdunkel sah ich ihn schlafend auf seinem Bett liegen und spürte, wie sich mein Herz beruhigte. Sein Anblick strahlte eine Ruhe aus, die den Tod und alle bösen Geister töricht erscheinen ließen. Bald konnte auch ich wieder ruhig schlafen. Die schlimmen Träume stellten sich nur noch selten ein und blieben schließlich ganz aus.
Ich machte die Erfahrung, dass er weniger vornehm war, als es nach außen den Anschein hatte. Hinter seiner würdevollen Art verbarg sich ein zweites Gesicht, voller Übermut und funkelnd wie ein Edelstein, auf den ein Sonnenstrahl traf. Er spielte gern, auch solche Spiele, die er weniger gut beherrschte, fing Gegenstände mit geschlossenen Augen auf und riskierte gewagte Sprünge über Betten und Stühle. Wenn er lachte, kräuselte sich die Haut in den Augenwinkeln wie Papier, das man ans Feuer hielt.
Er war selbst wie eine Flamme, die mit ihrem Gleißen und Flackern alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Auch wenn er gerade erst erwachte und sein Gesicht noch ganz verschlafen war, schien er schon in seinem Glanz zu strahlen. Von nahem betrachtet, wirkten seine Füße geradezu überirdisch: Die Zehen waren perfekt geformt und die Sehnen gespannt wie Leiersaiten. Da er immer barfüßig ging, bildete sich auf den rosigen Fersen eine Hornschicht, die er auf Geheiß seines Vaters mit einem Öl behandelte, das nach Sandelholz und Granatapfel duftete.
Vor dem Einschlafen berichtete er mir von seinem Tag. Anfangs hörte ich nur zu, aber mit der Zeit löste sich auch meine Zunge. Ich erzählte meine Geschichten, von den Erlebnissen im Palast und später auch aus meiner Vergangenheit, von den Steinen, die ich übers Wasser hatte hüpfen lassen, meinem Holzpferd und der Leier aus der Mitgift meiner Mutter.
»Ich bin froh, dass dein Vater sie dir mitgegeben hat«, sagte er.
Unsere nächtlichen Gespräche zogen sich in die Länge. Es überraschte mich selbst, wie viel wir uns zu sagen hatten. Wir sprachen über alles Mögliche, über den Strand, das Essen, über den einen und anderen Jungen. Dass sich womöglich ein verletzender Doppelsinn hinter seinen Worten verbarg, fürchtete ich nicht länger. Er trug sein Herz auf der Zunge und war verwirrt, wenn andere nicht meinten, was sie sagten. Manche hätten ihn deshalb vielleicht für einfältig gehalten. Aber spricht nicht vielmehr Geistesgröße aus einer solchen Einstellung?
Eines Nachmittags, als er zu seinen Privatübungen antreten musste und ich mich deshalb von ihm verabschieden wollte, sagte er plötzlich: »Warum kommst du nicht mit?« Er klang ein wenig angespannt, und mir schien es fast, als sei er
Weitere Kostenlose Bücher