Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
Vom Netzwerk:
fragte, als ich fertig war:
    »Warum hast du dich nicht verteidigt und gesagt, dass es Notwehr war?«
    Es war bezeichnend, dass er die Frage aufwarf, die mir bislang gar nicht in den Sinn gekommen war.
    »Keine Ahnung.«
    »Du hättest dich auch mit einer Lüge herausreden und behaupten können, dass er schon tot war, als du ihn aufgefunden hast.«
    Ich starrte ihn an, verblüfft über diese simple Möglichkeit. Natürlich, ich hätte lügen können. Und dann kam mir der Gedanke: Wenn ich gelogen hätte, wäre ich noch ein Prinz . Es war nicht der Totschlag, der mich in die Verbannung getrieben hatte, sondern meine Einfallslosigkeit. Nun verstand ich auch den Abscheu, der aus den Augen meines Vaters gesprochen hatte. Ich, sein beschränkter Sohn, war ihm zuwider, weil ich geständig war. Ich erinnerte mich, wie er die Zähne zusammenbiss, als ich gesprochen hatte. Er verdient es nicht, König zu sein .
    »Du hättest doch auch nicht gelogen.«
    »Nein«, gab er zu.
    »Und wie hättest du dich verhalten?«, fragte ich.
    Achill griff nach einem Zweig, der über ihm hing. »Ich weiß nicht. Ich kann’s mir nicht vorstellen. Wie dieser Junge mit dir umgegangen ist …« Er zuckte mit den Achseln. »Mir hat noch niemand etwas wegzunehmen versucht.«
    »Nie?« Ich konnte es kaum glauben. Ein Leben ohne solche Zumutungen erschien mir unmöglich.
    »Nie.« Er dachte eine Weile nach und sagte: »Ich glaube, ich wäre an deiner Stelle auch in Wut geraten.« Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Grüne Eichenblätter umkränzten seinen Kopf wie eine Krone.
    Ich sah König Peleus jetzt häufiger; wir wurden manchmal zu Beratungen und Festmahlen mit Fürsten eingeladen, die zu Gast waren. Ich durfte neben Achill am Tisch sitzen und sogar reden, wenn ich es wollte. Mir war es allerdings lieber zu schweigen und zu beobachten. Peleus nannte mich glaukos – Eule –, meiner großen Augen wegen. Er verstand sich gut auf solche Formen der Zuneigung, die allgemein blieben und zu nichts verpflichteten.
    Wenn die Gäste gegangen waren, saßen wir am Feuer und hörten Geschichten seiner Jugend. Peleus, nunmehr ergraut und alt geworden, erzählte uns, wie er einmal an der Seite des Herakles gekämpft hatte. Als ich sagte, Philoktetes gesehen zu haben, lächelte er.
    »Ja, das war Herakles’ Waffenträger und einer der tapfersten von uns.« Auch war es typisch für ihn, solche Komplimente zu machen. Ich verstand nun, warum seine Schatzkammern so voll waren von Geschenken, die er Verträgen und Bündnissen verdankte. Unter unseren prahlerischen Helden bildete Peleus eine Ausnahme: Er war bescheiden. Wir hörten ihm gern zu und saßen lange am Feuer, während Diener immer wieder Holzscheite nachlegten, und manchmal dämmerte schon der Morgen, wenn er uns schließlich ins Bett schickte.
    Der einzige Ort, an den ich Achill nicht folgen durfte, war das Gemach seiner Mutter. Er besuchte sie immer nachts oder am frühen Morgen, wenn noch alles schlief, und wenn er zurückkehrte, verströmte er Meeresgeruch und sein Gesicht war gerötet. Als ich ihn einmal nach diesen Treffen fragte, gab er mir bereitwillig, aber mit seltsam tonloser Stimme Auskunft.
    »Es ist immer dasselbe. Sie will wissen, was ich treibe und wie es mir geht, und spricht mit mir über mein Ansehen in der Welt. Am Ende fragt sie, ob ich mit ihr gehen werde.«
    Ich war ganz Ohr. »Wohin?«
    »In die Höhlen am Meeresgrund.« Wo die Seenymphen lebten, in großer Tiefe, unerreicht von Sonnenstrahlen.
    »Und? Wirst du mit ihr gehen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Mein Vater will es nicht. Er sagt, kein Sterblicher, der zu ihnen ginge, kehrte je zurück.«
    Als er nicht hinsah, schlug ich ein Zeichen gegen das Böse, auf dass es mich nicht befalle. Es machte mir Angst, ihn so ruhig und gelassen über solche Dinge sprechen zu hören. Wenn sich in unseren Geschichten Götter und Sterbliche aufeinander einließen, endete das nie gut. Aber sie war seine Mutter, sagte ich mir, und er selbst ein Halbgott.
    Mit der Zeit gewöhnte ich mich auch an diese sonderbaren Besuche wie an das Wunder seiner schnellen Füße und die übermenschliche Geschicklichkeit seiner Hände. Wenn ich hörte, wie er im Morgengrauen durchs Fenster zurück in die Kammer stieg, fragte ich immer von meinem Bett aus: »Geht es ihr gut?«
    Und er antwortete dann: »Ja, es geht ihr gut.« Manchmal fügte er hinzu: »Heute tummeln sich große Fischschwärme vor der Küste«, oder: »Das Meer ist warm wie

Weitere Kostenlose Bücher