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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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nervös, obwohl ich wusste, dass dies kaum der Fall sein konnte. Trotzdem spürte ich deutlich, dass irgendetwas Ungewöhnliches in der Luft lag.
    »In Ordnung«, antwortete ich.
    Während der stillen, heißen Zeit des späten Nachmittags schlief alles. Wir waren allein und schlugen den langen Weg ein, der auf verschlungenem Pfad durch den Olivenhain führte, hin zu der Hütte, in der die Waffen aufbewahrt wurden.
    Ich blieb in der Tür stehen und sah ihm zu, wie er einen Speer und ein Schwert auswählte, deren Spitzen abgestumpft waren. Ich wollte nach meinen eigenen Waffen greifen, zögerte aber.
    »Soll ich –?« Er schüttelte den Kopf. Nein .
    »Ich kämpfe nicht gegen andere«, erklärte er.
    Ich folgte ihm nach draußen auf den Sandplatz. »Nie?«
    »Nie.«
    »Aber woher weißt du dann …« Ich stockte, als er, den Speer in der Hand und das Schwert gegürtet, in der Mitte des Platzes Aufstellung nahm.
    »Ob die Weissagung zutrifft? Ich weiß es nicht.«
    In jedem Gotteskind fließt das göttliche Blut auf eigene Art. Orpheus’ Stimme brachte Bäume zum Weinen, Herkules vermochte einen Mann zu töten, indem er ihn auf den Rücken schlug. Das Geheimnis von Achill lag in seiner Schnelligkeit. Er führte den Speer so blitzartig, dass ich ihm mit den Augen nicht folgen konnte. Ich sah ihn nur hin und her schwirren. Der Schaft schien von einer Hand in die andere zu fließen, und die dunkelgraue Spitze zuckte wie die Zunge einer Schlange. Dabei bewegte er sich wie ein Tänzer und stand nie still.
    Wie gebannt schaute ich zu und hielt die Luft an. Seiner Miene war keinerlei Anstrengung anzumerken, und seine vorgetäuschten Attacken waren so präzise, dass ich seine Gegner förmlich sehen konnte, zehn, zwanzig Mann, die von allen Seiten näher rückten. Er sprang und ließ den Speer wie eine Sichel sausen, während er mit der freien Hand nach dem Schwert griff, um dann mit beiden Waffen zu kämpfen.
    Plötzlich hielt er inne. In der Stille hörte ich ihn atmen, ein wenig lauter als sonst.
    »Wer hat dir das beigebracht?« Mir fiel nichts anderes ein als diese Frage.
    »Mein Vater. Ein wenig.«
    Ein wenig. Ich bekam es fast mit der Angst zu tun.
    »Sonst niemand?«
    »Nein.«
    Ich machte einen Schritt auf ihn zu. »Kämpf gegen mich.«
    Er gab ein Geräusch von sich, das fast wie ein Lachen klang. »Nein. Kommt gar nicht in Frage.«
    »Doch.« Ich war wie in Trance. Sein Vater hatte ihn ausgebildet, ein wenig. Alles Weitere verdankte er – wem? Den Göttern? Es war jedenfalls göttlicher als alles, was ich bislang in meinem Leben gesehen hatte. Er ließ dieses grausame Handwerk, das, von anderen betrieben, grob und unansehnlich wirkte, geradezu schön erscheinen. Wie konnte jemand stolz auf seine Art zu kämpfen sein, wenn es so etwas in der Welt gab?
    »Ich will nicht.«
    »Ich fordere dich heraus.«
    »Du hast keine Waffen.«
    »Ich hole mir welche.«
    Er kniete sich hin und legte seine Waffen in den Staub. Unsere Blicke begegneten sich. »Ich werde nicht gegen dich kämpfen. Und frage mich nie wieder.«
    »Doch, das werde ich. Du kannst es mir nicht verbieten.« Trotzig ging ich auf ihn zu. Irgendetwas brannte in mir, Ungeduld, das Verlangen nach Gewissheit. Er musste sie mir geben.
    Er verzog das Gesicht. Ich glaubte, Verärgerung daraus ablesen zu können, und das gefiel mir. Ich hatte ihn also anscheinend aufgebracht, und vielleicht würde er sich mir schließlich doch stellen. Die Gefahr reizte mich ungemein.
    Er aber ließ die Waffen im Staub liegen und ging.
    »Komm zurück!«, rief ich. Dann ein zweites Mal, noch lauter: »Komm zurück! Hast du etwa Angst vor mir?«
    Er drehte den Kopf und zeigte wieder dieses seltsame, nur halb angedeutete Schmunzeln. »Nein, ich habe keine Angst.«
    »Die solltest du aber haben.« Was wie ein Scherz gemeint war, klang durchaus ernst in der Stille, die über uns schwebte. Er kehrte mir den Rücken und ging weiter.
    So nicht , dachte ich bei mir. Ich nahm Anlauf und warf mich ihm ins Kreuz.
    Er stolperte, stürzte. Ich hielt an ihm fest und hörte ihn ächzen, als er auf dem Boden aufschlug, doch ehe ich ein Wort sagen konnte, hatte er sich unter mir weggedreht und mich bei den Handgelenken gepackt. Ich war mir nicht im Klaren darüber, wie ich mich wehren sollte, spürte aber seinen Widerstand, und dagegen konnte ich angehen. »Lass los!« Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien.
    »Nein.« Blitzschnell wälzte er mich auf den Rücken und stemmte mir die Knie in

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