Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
Vom Netzwerk:
sichtlich verärgert. »Sei kein Narr«, blaffte sie mich an.
    »Ich wollte nicht –«
    Sie schlug mich. Ihre Hand war klein, aber überraschend kräftig. Mein Kopf flog zur Seite. Die Haut brannte, und die Oberlippe tat empfindlich weh, denn dort hatte sie mich mit ihrem Ring gestreift. Ich war seit meiner Kindheit nicht mehr so behandelt worden. Knaben wurden gewöhnlich nicht geschlagen, es sei denn, ein Vater wollte damit seine Verachtung zum Ausdruck bringen. So wie meiner früher. Ich war erschüttert und sprachlos.
    Sie fletschte ihre Zähne, wie um mich davor zu warnen, ja nicht zurückzuschlagen. Als sie sah, dass ich sie nicht antasten würde, verzog sie das Gesicht zu einer Miene des Triumphes. »Feigling. Du bist so feige wie hässlich. Und ein Schwachkopf, wie man hört. Ich kann es nicht begreifen. Es ergibt keinen Sinn, dass er –« Sie brach abrupt ab, und ihr Mundwinkel hing herab, als hätte sich ein Fischerhaken darin verfangen. Sie kehrte mir den Rücken zu und war still. Das Schweigen zog sich hin. Ich hörte sie langsam ein- und ausatmen, um zu verbergen, dass sie weinte. Ich kannte den Trick, hatte ihn selbst häufig genug benutzt.
    »Ich hasse dich«, sagte sie, doch ihre Stimme war belegt und ohne Kraft. Mich überkam Mitleid; es kühlte meine heißen Wangen. Ich erinnerte mich, wie schwer Gleichgültigkeit zu ertragen war.
    Sie schluckte, fuhr mit der Hand ans Gesicht und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ich werde morgen abreisen«, sagte sie. »Du wirst dich darüber wohl freuen. Mein Vater will, dass ich vor meiner Niederkunft nicht mehr gesehen werde, und bevor bekannt gegeben wird, dass ich vermählt bin.«
    Ich hörte ihrer Stimme die Bitterkeit an, die sie zu empfinden schien. Sie würde irgendwo an der Landesgrenze ein kleines Haus beziehen, auf die Gesellschaft ihrer Freundinnen verzichten müssen und mit ihrem schwellenden Bauch und einer Sklavin allein sein.
    »Es tut mir leid«, sagte ich.
    Sie antwortete nicht. Ich sah ihre Schultern unter dem weißen Gewand sich seufzend heben und senken und war geneigt, auf sie zuzutreten und ihr tröstend mit der Hand über die Haare zu streichen. Doch meine Berührung wäre für sie kein Trost. Ich hielt mich zurück.
    Wir standen eine Weile unschlüssig da. Ihre Atemgeräusche füllten die Kammer. Als sie sich zu mir umdrehte, war ihr Gesicht vom Weinen gerötet.
    »Achill beachtet mich nicht.« Ihre Stimme zitterte ein wenig. »Obwohl ich sein Kind in mir trage und seine Frau bin. Kannst du dir das … erklären?«
    So fragte eigentlich nur ein Kind, das wissen wollte, warum es regnete oder warum das Meer nie still stünde. Ich kam mir älter und reifer vor als sie, obwohl ich es nicht war.
    »Nein«, antwortete ich.
    Sie verzog das Gesicht. »Lügner! Du bist der Grund. Er wird mit dir gehen und mich verlassen.«
    Ich wusste, wie es sich anfühlte, allein zu sein, kannte den bohrenden Schmerz, den einem das Glück anderer versetzte, wenn man selbst Kummer litt. Doch es gab nichts, was ich für sie hätte tun können.
    »Ich sollte besser gehen«, sagte ich leise und möglichst schonend.
    »Nein!« Sie sprang zur Tür und verstellte mir den Weg. »Du gehst nicht«, platzte es aus ihr heraus. »Falls du es wagst, rufe ich die Wachen. Ich … ich werde behaupten, du wärst über mich hergefallen.«
    Mein Mitgefühl mit ihr drückte mich nieder. Selbst wenn sie die Wachen riefe, selbst wenn sie ihr glauben würden, wäre ihr nicht geholfen. Ich war Achills Gefährte und somit unverwundbar.
    Anscheinend zeigte sich in meiner Miene, was ich dachte. Sie schreckte zurück wie von einer Wespe gestochen und geriet wieder in Aufruhr.
    »Es hat dich verletzt, dass er mich zur Frau genommen und mir beigewohnt hat. Du warst eifersüchtig, und das zu Recht.« Sie hob ihr Kinn, wie es ihre Art war. »Er hat mir mehr als einmal beigewohnt.«
    Zweimal . Achill hatte es mir gesagt. Sie glaubte, einen Keil zwischen uns treiben zu können, doch das würde ihr nie gelingen.
    »Es tut mir leid«, wiederholte ich, weil ich nichts anderes zu sagen wusste. Er liebte sie nicht, würde sie nie lieben.
    Sie verzerrte das Gesicht, als hätte sie meine Gedanken gehört. Tränen tropften zu Boden und färbten die grauen Steinplatten schwarz.
    »Lass mich deinen Vater holen«, sagte ich. »Oder eine deiner Freundinnen.«
    Sie blickte zu mir auf. »Bitte –«, flüsterte sie. »Bitte, bleib, geh nicht.«
    Sie zitterte wie ein gerade erst geborenes Lebewesen.

Weitere Kostenlose Bücher