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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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Es drängte ihn, aufzubrechen. Ich stieß ihn unter der Tischplatte an.
    »Was ist?«, fragte er mich.
    »Die Prinzessin fragt, ob es dir gut geht.«
    »Oh.« Er sah sie flüchtig an, richtete dann den Blick zurück auf mich und sagte: »Ja, es geht mir gut.«
    Die Tage vergingen. Achill stand früh auf, um noch vor Sonnenaufgang in einem entlegenen Hain, wo wir Waffen versteckt hatten, mit seinen Übungen zu beginnen. Anschließend kehrte er als Frau zur Burg zurück. Manchmal besuchte er auch seine Mutter. Dann saß er wartend auf einem Felsvorsprung am Meer und ließ die Füße ins Wasser baumeln.
    Eines Morgens – Achill war schon fort – klopfte es laut an der Kammertür.
    »Ja?«, rief ich, worauf zwei Wachen eintraten. Sie trugen Speere und nahmen Haltung an. Ich fand es fast seltsam, sie ohne ihre Würfel zu sehen.
    »Du kommst mit uns«, sagte einer der beiden.
    »Warum?« Ich lag noch im Bett und war benommen vom Schlaf.
    »Die Prinzessin will es so.« Sie nahmen mich zwischen sich und zogen mich an den Armen zur Tür. Als ich zu protestieren versuchte, rückte mir einer der beiden ganz nah ans Gesicht heran und sagte: »Es wäre besser, du verhältst dich ruhig.« Und als wollte er mir Angst machen, strich er mit dem Daumen über die Spitze seines Speers.
    Dass sie mir Gewalt antun würden, war nicht zu befürchten, aber ich wollte nicht, dass sie mich durch die Flure schleiften. »Na schön«, sagte ich und ging freiwillig mit.
    Sie führten mich durch schmale Gänge, die ich nie zuvor betreten hatte. Wir befanden uns im Quartier der Frauen, einem Bienenstock aus engen Zellen, in denen Deidameias Pflegeschwestern untergebracht waren. Hinter verschlossenen Türen hörte ich Gelächter und das endlose Hin und Her von Weberschiffchen. Von Achill wusste ich, dass die Sonne hier nicht in die Fenster schien und auch kein Lüftchen in den Kammern wehte. Er hatte über einen Monat in ihnen zugebracht, was ich mir kaum vorstellen konnte.
    Wir gelangten zu einer großen Tür, die aus edlerem Holz war als die anderen. Eine der Wachen klopfte an, öffnete sie und schob mich über die Schwelle. Hinter mir fiel die Tür ins Schloss.
    Deidameia saß in züchtiger Haltung auf einem lederbezogenen Stuhl und musterte mich. Neben ihr stand ein Tisch, ein kleiner Schemel zu ihren Füßen. Ansonsten war der Raum leer.
    Anscheinend wusste sie, dass Achill nicht im Haus war. Sie hat es geplant , dachte ich.
    Weil es keine Sitzmöglichkeit für mich gab, blieb ich stehen. Der Steinboden war kalt unter meinen bloßen Füßen. Ich sah eine zweite, kleinere Tür, die, wie ich vermutete, zu ihrer Schlafkammer führte.
    Sie beobachtete mich mit wachem Blick. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    »Du wolltest mich sprechen.«
    Sie ließ ein kleines, verächtliches Schnauben verlauten. »Ja, Patroklos, so ist es.«
    Ich wartete, doch sie schwieg, musterte mich bloß und tippte mit einem Finger auf die Armlehne. Ihr Kleid saß lockerer als sonst und war, im Unterschied zu den Kleidern, in denen ich sie üblicherweise sah, in der Mitte nicht gerafft. Ihre Haare fielen frei herab und wurden nur von zwei elfenbeinernen Kämmen an den Schläfen zurückgehalten. Sie neigte ihren Kopf zur Seite und lächelte mich an.
    »Sonderbar, du bist nicht einmal hübsch, siehst vielmehr recht gewöhnlich aus.«
    Wie ihr Vater hatte auch sie die Art, längere Pausen einzulegen, als erwartete sie eine Entgegnung. Ich spürte, dass mir das Gesicht rot anlief, und räusperte mich, um etwas zu sagen.
    »Du sprichst erst, wenn ich es dir erlaube«, kam sie mir zuvor und ließ genügend Zeit verstreichen, um sicherzugehen, dass ich gehorchte. »Ja, wirklich sonderbar. Schau dich an.« Sie stand auf und kam mit schnellen Schritten auf mich zu. »Du hast einen viel zu kurzen Hals, und deine Brust ist so mager wie die eines Knaben.« Sie zeigte mit dem Finger auf mich. »Und dieses Gesicht.« Sie schien sich zu ekeln. »Scheußlich. Meine Tänzerinnen sind ganz meiner Meinung. Selbst mein Vater stimmt mir zu.« Ihre hübschen roten Lippen teilten sich und zeigten strahlend weiße Zähne. So nahe hatte ich sie noch nie vor mir gesehen. Ich konnte ihren Duft wahrnehmen, der so süß war wie der einer Akanthusblüte. Aus der Nähe betrachtet, hatte das Schwarz ihrer Haare einen dunkelbraun schimmernden Stich.
    »Und? Was sagst du dazu?« Sie stemmte die Hände in die Hüften.
    »Du hast mir noch nicht erlaubt zu sprechen«, entgegnete ich.
    Sie reagierte

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