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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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weißen Segeln, die praktisch und billig waren. Nur reiche Herrscher konnten es sich leisten, das Segeltuch ihrer Schiffe zu färben. Agamemnon ließ wie die Könige aus dem fernen Osten rote und violette Segel hissen. Diejenigen, die wir sahen, waren gelb und mit schwarzen Kreislinien gemustert.
    »Sagen dir diese Farben etwas?«, fragte ich.
    Achill schüttelte den Kopf.
    Wir sahen das Schiff an der engen Einfahrt zur Bucht vorbeiziehen und auf den Sandstrand zusteuern. Ein Steinanker wurde gesetzt, eine Laufplanke ausgefahren. Aus der Entfernung waren die Männer an Bord nicht zu erkennen, wir sahen nur schwarze Köpfe.
    Achill stand auf und ließ seine vom Wind zerzausten Haare unter dem Kopftuch verschwinden. Ich half ihm, sein Kleid zu richten, den Gürtel und die Bänder anzulegen, und hatte mich längst daran gewöhnt, ihn in dieser Aufmachung zu sehen. Als wir fertig waren, beugte er sich vor und gab mir einen Kuss. Seine weichen Lippen versetzten mich in Erregung. Er sah den Ausdruck meiner Augen und lächelte. »Später«, versprach er mir, drehte sich um und kehrte auf dem Pfad zurück, der zur Burg führte. Er würde sich in den Frauengemächern versteckt halten, bis der Bote die Insel wieder verlassen hatte.
    Hinter meinen Augen machten sich Kopfschmerzen breit. Ich ging in meine kühle, abgedunkelte Kammer und schlief.
    Ein Klopfen an der Tür weckte mich auf. Mit noch geschlossen Augen rief ich: »Herein.« Vielleicht, so dachte ich, verlangte Lykomedes nach mir.
    »Schon zur Stelle«, sagte eine Stimme, belustigt und so trocken wie Treibholz. Ich öffnete die Augen und richtete mich auf. In der offenen Tür stand ein Mann von kräftiger Statur und mit kurz geschorenem dunkelbraunem Philosophenbart, der ein wenig rötlich schimmerte. Er lächelte, und ich sah an seinen Augenfältchen, dass er dies wohl häufiger tat. In meinem Gedächtnis rührte sich etwas.
    »Tut mir leid, wenn ich störe«, sagte er freundlich und sorgfältig artikuliert.
    »Schon gut«, entgegnete ich vorsichtig.
    »Ich würde gerne ein paar Worte mit dir wechseln. Dürfte ich Platz nehmen?« Er deutete mit der Hand auf einen Schemel. Obwohl mir nicht wohl zumute war, sah ich keinen Grund, ihm die Bitte auszuschlagen.
    Ich nickte, worauf er den Schemel zu mir ans Bett rückte. Seine Hände waren rau und voller Schwielen. Sie hätten sich gut an einem Pflug gemacht, doch schien der Mann von hoher Geburt zu sein. Um Zeit zu gewinnen, stand ich auf und öffnete die Fensterläden in der Hoffnung, den Schleier der Benommenheit in meinem Kopf zu lichten. War dieser Besucher gekommen, um mich an meinen Eid zu erinnern? Eine andere Möglichkeit fiel mir nicht ein. Ich wandte mich ihm zu.
    »Wer bist du?«, wollte ich wissen.
    Der Mann lachte. »Das ist eine gute Frage. Verzeihung, ich platze einfach hier herein, ohne mich vorgestellt zu haben. Ich bin einer der Kapitäne des großen Königs Agamemnon und fahre von Insel zu Insel, um junge verheißungsvolle Männer aufzusuchen, solche wie dich.« Er neigte den Kopf zum Zeichen der Anerkennung. »Auf dass sie sich unserem Heer anschließen, das gegen Troja in den Kampf zieht. Hast du davon gehört, dass Krieg geführt wird?«
    »Ja«, antwortete ich.
    »Gut.« Er lächelte und streckte die Beine aus. Auf der rechten Wade zeigte sich eine Narbe, die vom Knöchel bis zum Knie reichte und sich von der braunen Haut deutlich abhob. Eine zahnfleischfarbene Narbe . Mir wurde flau, als hätte ich mich über die höchste Klippe von Skyros hinausgelehnt und den Blick in schwindelnde Tiefe gerichtet. Er war älter geworden und breiter, auf dem Höhepunkt seiner Kraft: Odysseus .
    Er sagte etwas, doch es drang nicht zu mir vor. In Gedanken war ich in Tyndareos’ Halle und erinnerte mich an seine schlauen, dunklen Augen, denen nichts zu entgehen schien. Ob er mich erkannt hatte? Ich starrte ihm ins Gesicht, fand aber auf meine Frage keine Antwort. Ich zwang mich, meine Angst zu unterdrücken.
    »Tut mir leid«, sagte ich. »Was hast du gesagt?«
    »Ich habe gefragt, ob du mit uns in den Kampf ziehen wirst?«
    »Ich glaube kaum, dass an meinem Einsatz Interesse bestehen könnte. Ich bin kein guter Krieger.«
    Er verzog den Mund. »Komisch, niemand, den ich frage, scheint sich für einen fähigen Kämpfer zu halten«, entgegnete er wie zum Scherz und ohne jeden Vorwurf in der Stimme. »Wie heißt du?«
    Ich versuchte, einen möglichst beiläufigen Tonfall anzuschlagen. »Cheironides.«
    »Cheironides«,

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