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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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Troja. Es lag am Rand einer weiten grünen Ebene, eingerahmt von zwei breiten Flüssen mit träge fließendem Wasser. Von der Sonne beschienen, glänzten die hohen Stadtmauern, und wir glaubten, das berühmte Skäische Tor blinken zu sehen, von dem es hieß, dass seine bronzenen Angeln so groß waren wie ein Mann.
    Später sah ich die Mauern von nahem, deren gewaltige Steinquadern angeblich von Apoll selbst behauen und gefügt worden waren. Und ich sollte mich fragen, wie eine solche Festung überhaupt eingenommen werden konnte, denn die Mauern waren zu hoch für unsere Belagerungstürme, zu stark für unsere Katapulte, und kein vernünftiger Mensch würde versuchen, ihre von göttlicher Hand geglättete Steilwand zu erklimmen.
    Die Sonne stand schon tief, als Agamemnon die erste Ratsversammlung einberief. Ein großer Pavillon war errichtet worden, darin befanden sich mehrere Stuhlreihen, im Halbkreis angeordnet. Vorn saßen Agamemnon und Menelaos, flankiert von Odysseus und Diomedes. Die Fürsten kamen und nahmen Platz. Von klein auf an Rang und Stand gewöhnt, besetzten die geringeren Fürsten die hinteren Reihen. Achill nahm, ohne zu zögern, einen Platz in der ersten Reihe in Beschlag und gab mir mit einem Wink zu verstehen, dass ich mich neben ihn setzen sollte, was ich auch tat, obwohl damit zu rechnen war, dass man mich aufforderte, den Platz zu räumen. Doch offenbar war es den Besten erlaubt, ihre engsten Gefolgsleute bei sich zu haben, denn Ajax brachte seinen Halbbruder Teukros und Idomeneus seinen Wagenlenker.
    In Aulis hatte es noch Klagen über solche Beratungen gegeben, die viele für geschwätzig und unnütz erachteten. Doch hier ging es um die Sache – um Latrinen, Versorgung und Strategien. Manche plädierten für Angriff, andere für Diplomatie. Wäre es nicht ratsam, zumindest den Versuch einer gewaltfreien Lösung zu unternehmen? Dafür machte sich überraschenderweise ausgerechnet Menelaos stark. »Ich bin gern bereit, die Verhandlungen zu führen«, sagte er.
    »Haben wir die weite Reise auf uns genommen, um dem Feind gut zuzureden?«, empörte sich Diomedes. »Wenn es nicht zum Kampf kommt, hätte ich auch zu Hause bleiben können.«
    »Wir sind keine wilden Horden«, entgegnete Menelaos. »Vielleicht lässt sich der Feind zur Vernunft bringen.«
    »Das ist äußerst unwahrscheinlich. Warum Zeit verlieren?«
    »Ganz einfach, werter König von Argos. Wenn wir es zunächst mit Gesprächen versuchen und erst dann, wenn sie nicht fruchten, zu den Waffen greifen, stünden wir vor der Welt besser da.« Das waren Odysseus’ Worte. »Die Städte Anatoliens würden sich in diesem Fall vielleicht nicht verpflichtet fühlen, Troja zu Hilfe zu kommen.«
    »Bist du, Fürst von Ithaka, also für Verhandlungen?«, fragte Agamemnon.
    Odysseus zuckte mit den Achseln. »Es gibt viele Möglichkeiten, einen Krieg zu beginnen. Ich habe Raubzüge allerdings immer schon für einen guten Anfang gehalten. Sie führen zu einem ähnlichen Ergebnis wie Gespräche, erzielen aber höhere Gewinne.«
    »Ja, Raubzüge!«, rief Nestor. »Es gilt, Stärke zu zeigen.«
    Agamemnon massierte sich das Kinn und ließ den Blick über die versammelten Könige schweifen. »Ich stimme Nestor und Odysseus zu. Wir sollten als Erstes zuschlagen und erst dann eine diplomatische Lösung in Erwägung ziehen. Morgen blasen wir zum Angriff.«
    Weitere Anweisungen erübrigten sich. Jeder wusste, wie vorzugehen war. Raubzug bedeutete nicht, die Stadt zu überfallen, sondern das umliegende Land in Besitz zu nehmen, um die Versorgungswege abzuschneiden. Widerständler würden getötet werden, alle anderen zu Sklaven gemacht. Unsere Männer würden Getreide und Fleisch für sich behalten und die Töchter des Landes in Geiselhaft nehmen. Vielen mochte es gelingen, in die Stadt zu fliehen, was aber zu deren Überfüllung, zu Meuterei und Epidemien führen würde. Aus Verzweiflung und Not würde man schließlich die Tore öffnen.
    Ich hoffte auf Achills Einspruch, darauf, dass er erklärte, unschuldiges Landvolk zu töten sei unehrenhaft. Aber er nickte nur und tat so, als habe er schon unzählige Male solche Kriege geführt.
    »Ein Letztes noch: Falls es zum Gegenangriff kommt, will ich, dass unsere Reihen geschlossen bleiben und kein Chaos ausbricht.« Agamemnon schien nervös zu sein und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Dazu hatte er auch allen Grund, denn unsere Könige waren leicht reizbar, insbesondere jetzt, da es darum ging, einem jeden

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