Das Lied des Achill
aus und warf. Diesmal beobachtete ich ihn dabei, sah den Schwung seines Arms und das erhobene Kinn. Im Unterschied zu anderen schien er es nicht nötig zu haben, lange zu zielen. Es war, als lenkte er den Flug des Speeres mit den Augen. Am Strand ging ein weiterer Mann zu Boden.
Wir waren bis auf Schussweite herangekommen. Schwärme von Pfeilen schwirrten hin und her. Viele landeten im Wasser, andere schlugen in Masten und Schiffsrümpfen ein. Manche Männer fielen schreiend auf die Planken. Achill ließ sich von Automedon einen Schild geben. »Bleib hinter mir«, sagte er. Ich gehorchte. Vom Schild abgeschirmt, griff er zu einem weiteren Speer.
Die Feinde wurden wilder. Ihre im Übereifer geschleuderten Pfeile und Speere schwammen verstreut auf dem Wasser. Protesilaos, der Prinz von Phylake, sprang lachend vom Bug seines Schiffes und machte sich daran, ans Ufer zu schwimmen. Vielleicht war er betrunken, vielleicht getrieben von der Hoffnung auf Ruhm. Vielleicht wollte er den Prinzen von Phthia übertreffen. Ein Speer, von keinem Geringeren als Hektor geworfen, traf sein Ziel, und das Wasser um den Schwimmenden färbte sich rot. Protesilaos war der erste Grieche, der fiel.
Unsere Männer stiegen in Ruderboote und strömten, von Schilden geschützt, ans Ufer. Die Trojaner waren gut aufgestellt, aber der Strand bot keine natürliche Deckung, und wir waren in der Überzahl. Auf ein Kommando von Hektor hin sammelten sie die gefallenen Kameraden ein und zogen sich zurück. Sie hatten erreicht, was sie wollten, und uns gezeigt, dass sie zur Gegenwehr entschlossen waren.
Zwanzigstes Kapitel
W ir gingen an Land und zogen die ersten Boote auf den Strand. Wachposten wurden aufgestellt und Späher losgeschickt mit dem Auftrag, vor weiteren Angriffen der Trojaner zu warnen. Trotz großer Hitze wagte es niemand, sein Rüstkleid abzulegen.
Während sich die Boote hinter uns am Ufer drängten, schafften wir das Material zum Aufbau der Lager herbei. Unser Lager, das der Männer von Phthia, sollte am äußersten Rand errichtet werden, weit entfernt von Troja und den Lagern der anderen Könige. Ich warf einen Blick auf Odysseus. Er war es, der so entschieden hatte, was er aber mit keiner Miene verriet.
»Wo genau?«, fragte Achill mit Blick nach Norden und die Hand schirmend über die Augen gehalten. Der Strand schien sich endlos weit zu erstrecken.
»Da, wo der Sandstreifen endet«, antwortete Odysseus.
Mit einem Handzeichen forderte Achill die Hauptmänner der Myrmidonen auf, uns zu folgen. Die Sonne brannte auf uns herab. Sie schien heller hier, was aber vielleicht nur am weißen Sand lag. Wir marschierten, bis wir zu einer von Gras bewachsenen Anhöhe gelangten. Sie war wie eine Sichel geschwungen, geeignet, unserem Lager von drei Seiten Deckung zu bieten. Auf dem Scheitel erstreckte sich ein Hain bis hin zu einem glitzernden Flusslauf im Osten. Im Süden zeigte sich Troja als schmutziger Fleck am Horizont. Wenn es Odysseus gewesen war, der uns diese Stelle zugewiesen hatte, schuldeten wir ihm Dank. Es war der beste Lagerplatz weit und breit, denn er bot Schutz, Schatten und frisches Grün.
Wir überließen die Myrmidonen der Führung Phoinix’ und kehrten zum Hauptlager zurück, wo große Betriebsamkeit herrschte. Boote wurden auf Baumstämmen ans Ufer gerollt und entladen, Zelte aufgebaut. Alle Männer strotzten vor Tatendrang und wirkten geradezu hektisch. Wir waren endlich angekommen.
Unterwegs kamen wir am Lager von Ajax vorbei, dem berühmten großen Vetter Achills und König der Insel Salamis. Wir hatten ihn in Aulis nur von weitem gesehen und Gerüchte über ihn gehört: dass Decksplanken unter seinen wuchtigen Schritten zerbarsten und dass er einen ausgewachsenen Bullen tausend Fuß auf dem Rücken zu tragen vermochte. Er holte gerade riesige Säcke aus seinem Boot, seine angespannten Muskeln sahen wie Felsblöcke aus.
»Sohn des Telamon«, grüßte Achill.
Der bärenstarke Hüne drehte sich um. Es dauerte eine Weile, bis er den jungen Mann vor ihm erkannte. Er kniff die Augen zusammen, gab sich dann aber höflich. »Pelides«, sagte er, setzte seine Last ab und reichte ihm eine knorrige Hand mit Schwielen, die so groß wie Oliven waren. Mir tat Ajax ein wenig leid. Wäre Achill nicht gewesen, hätte man ihm die Ehrenbezeichnung Aristos Achaion verliehen.
Im Hauptlager angekommen, standen wir auf dem Hügel, der den Sandstrand vom Grasland trennte, und nahmen in Augenschein, weswegen wir gekommen waren.
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