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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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Autorität dagegen war ein Gottesgeschenk, und die Männer blickten zu ihm auf wie zu einem Priester.
    Nach seinen Worten an die Kämpfer kam er zu mir zurück, um sich von mir zu verabschieden. Er hatte wieder menschliches Maß und hielt seinen Speer locker, fast träge.
    »Hilfst du mir dabei, das restliche Rüstzeug anzulegen?«
    Ich nickte und folgte ihm ins Zelt. Als hinter uns die Einstiegsplane zurückfiel, war es, als sei eine Lampe ausgeblasen worden. Ich reichte ihm Teile aus Leder und Metall, auf die er zeigte und mit denen er seine Oberschenkel, die Arme und den Bauch panzerte. Ich schaute zu, wie er sie mit Gurten festzurrte, eins nach dem anderen, sah, wie sich das Leder in die weiche Haut drückte, über die ich noch in der Nacht mit meinen Fingern gefahren war. Am liebsten hätte ich die Schnallen wieder gelöst, um ihn davon zu befreien. Doch ich hielt mich zurück. Die Männer warteten.
    Als Letztes reichte ich ihm seinen mit Pferdehaaren geschmückten Helm, der, als er ihn über die Ohren gezogen hatte, nur noch einen schmalen Streifen seines Gesichts frei ließ. Er beugte sich zu mir, von Bronze eingerahmt und nach Schweiß, Leder und Metall riechend. Ich machte die Augen zu und spürte seine Lippen, das nunmehr einzig Weiche an ihm, auf meinem Mund. Dann ging er fort.
    Ohne ihn kam mir das Zelt sehr viel kleiner vor, und der Geruch der Tierhäute, die an den Wänden hingen, stieß mir unangenehm auf. Ich legte mich auf unsere Pritsche und lauschte seinen Rufen, dann den stampfenden Hufen und dem Schnauben der Pferde. Schließlich knarrten die Räder des Streitwagens, der ihn forttrug. Immerhin musste ich mir um seine Sicherheit keine Sorgen machen. Solange Hektor lebte, würde er nicht sterben. Ich schloss die Augen und fiel in einen unruhigen Schlaf.
    Er weckte mich, indem er seine Nasenspitze auf meine drückte, während ich mich aus dem Gespinst meiner Träume zu befreien versuchte. Ein scharfer und sonderbarer Geruch ging von ihm aus, fast ekelte ich mich vor diesem Wesen, das mich bedrängte. Doch dann rückte es von mir ab, und es war wieder Achill, der vor mir hockte, die Haare feucht und dunkel. Sie klebten ihm im Gesicht, platt gedrückt vom Helm.
    Er war voller Blut, hellroter, noch feuchter Spritzer. Ich erschrak und rieb mir die vom Schlaf verklebten Augen. »Bist du verwundet?«
    »Sie konnten mir nichts anhaben«, sagte er wie verwundert und triumphierend zugleich. »Hätte nicht gedacht, dass es so einfach sein wird. Wärst du doch dabei gewesen. Man hat mich bejubelt.« Er schwelgte. »Ich konnte einfach nicht fehlschlagen. Ja, du hättest es sehen sollen.«
    »Wie viele?«, fragte ich.
    »Zwölf.«
    Zwölf Männer, die mit Paris oder Helena oder irgendjemandem von uns nicht das Geringste zu tun hatten.
    »Bauern?«, fragte ich bitter, was ihn wieder zur Besinnung zu bringen schien.
    »Sie waren bewaffnet«, beeilte er sich zu antworten. »Nie würde ich einen Unbewaffneten töten.«
    »Und wie viele wirst du wohl morgen töten?«
    Er hörte den gereizten Ton in meiner Stimme und blickte beschämt zu Boden. Ich bereute meine Frage. Hatte ich nicht versprochen, ihm zu verzeihen? Ich kannte seine Bestimmung und war ihm trotzdem nach Troja gefolgt. Für Einwände und Gewissensappelle war es jetzt zu spät.
    »Tut mir leid«, sagte ich und bat ihn, mir zu erzählen, wie es gewesen war. Schließlich teilten wir doch auch sonst alles miteinander. Er berichtete, wie sein erster Speer beide Wangen eines Mannes durchbohrt hatte, wie das zweite Opfer, in der Brust getroffen, gefallen war und Achill den Speer vergeblich zu bergen versucht hatte, weil sich die Widerhaken zwischen den Rippen verfangen hatten. Ein schrecklicher Gestank, so erzählte er, habe sich im ganzen Dorf verbreitet und Myriaden von Fliegen angelockt.
    Ich hörte ihm aufmerksam zu und versuchte, seine Ausführungen als Teil einer Geschichte aufzufassen, die in Wirklichkeit nicht stattgefunden hatte, sondern nur jene dunklen Gestalten und Geschehnisse schilderte, die auf unseren griechischen Vasen abgebildet waren.
    Agamemnon postierte Wachen, die Troja zu jeder Stunde eines jeden Tages im Auge behielten. Wir warteten auf einen Angriff, eine Demonstration von Stärke oder die Entsendung eines Vermittlers. Aber die Stadttore blieben geschlossen, und so setzten unsere Truppen ihre Raubzüge in die umliegenden Ortschaften fort. Ich gewöhnte mir an, tagsüber zu schlafen, um wach zu sein, wenn Achill zurückkehrte, denn er

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