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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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wir Lemnos vor der Meerenge des Hellespont. Sie war flacher als die meisten unserer Inseln, voller Sümpfe und stehender Gewässer, auf denen Lilien wucherten. In der Nähe unseres Lagers fanden Achill und ich einen kleinen See, an dessen Ufer wir uns setzten. Mücken schwirrten über dem Wasser, und aus den Binsen glotzten uns wulstige Augen entgegen. Wir waren nur noch zwei Tagesetappen von Troja entfernt.
    »Wie war es, als du diesen Jungen getötet hast?«
    Ich blickte auf. Sein Gesicht lag im Schatten, und die Haare fielen ihm über die Augen.
    »Wie es war?«, fragte ich.
    Er nickte, den Blick aufs Wasser gerichtet, als versuchte er, dessen Tiefe auszuloten.
    »Wie hat es ausgesehen?«
    »Schwer zu beschreiben.« Ich war auf seine Frage nicht vorbereitet und schloss die Augen, um mich zu erinnern. »Da war viel Blut, viel mehr, als ich es für möglich gehalten hätte. Der Schädel war aufgebrochen, und ein Teil des Gehirns kam zum Vorschein.« Sogar jetzt noch packte mich Ekel. Ich kämpfte dagegen an. »Es hat schrecklich gekracht, als sein Kopf auf den Felsen schlug.«
    »Hat er gezuckt? Wie ein Tier, wenn man es absticht?«
    »Das weiß ich nicht. Ich bin sofort weggelaufen.«
    Er schwieg eine Weile. »Mein Vater hat mir mal gesagt, ich solle mir vorstellen, es seien Tiere. Die Männer, die ich töten muss.«
    Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder. Er starrte immer noch auf die Wasseroberfläche.
    »Ich glaube, ich bringe es nicht über mich«, sagte er schlicht und geradeheraus, wie es seine Art war.
    Odysseus’ Worte drückten mich nieder, und meine Zunge war wie gelähmt. Gut , wollte ich sagen. Doch konnte ich überhaupt mitreden? Durch Krieg unsterblich zu werden war meine Bestimmung nicht.
    »Ich muss ständig daran denken«, sagte er leise. »An ihren Tod.« Mir ging es ähnlich. Auch ich sah immer noch das Blut spritzen und das Entsetzen in ihren Augen.
    »Du wirst es überwinden«, hörte ich mich sagen. »Sie war jung und unschuldig. Du wirst es mit Männern zu tun haben, die kämpfen, um dich zu töten, wenn du ihnen nicht zuvorkommst.«
    Er sah mich an mit festem Blick.
    »Aber du wirst nicht kämpfen, nicht einmal dann, wenn man dich angreift. Du verabscheust den Kampf.« Von jedem anderen ausgesprochen, wären diese Worte als Beleidigung zu verstehen gewesen.
    »Ich habe deine Fähigkeiten nicht«, entgegnete ich.
    »Das ist, glaube ich, nicht der einzige Grund.«
    Seine Augen waren so grün und braun wie der Wald, und trotz des schwachen Lichts sah ich Gold darin schimmern.
    »Mag sein«, erwiderte ich schließlich.
    »Wirst du mir verzeihen?«
    Ich ergriff seine Hand. »Es gibt nichts zu verzeihen. Du kannst mich nicht verletzen«, sagte ich aus tiefster Überzeugung.
    Plötzlich riss er sich von mir los und langte so schnell, dass meine Augen nicht folgen konnten, mit der Hand nach vorn zu den Füßen. Als er sich aufrichtete, baumelte etwas von seinen Fingern herab, das wie ein nasses Seilstück aussah. Ich traute meinen Augen nicht.
    » Hydros «, sagte Achill. Die Wasserschlange war dunkelgrau und hatte einen flachen Kopf, der schlaff zur Seite hinunterhing. Der Körper zitterte noch ein wenig, sterbend.
    Mir wurde flau. Cheiron hatte uns alles über diese Tiere erzählt, welche Farbe sie haben, wo sie leben und wie sie sich verhalten. Graubraun, am Wasser. Leicht reizbar und tödlich, wenn sie beißen.
    »Ich habe sie nicht gesehen«, stammelte ich. Er hatte ihr den Hals gebrochen und schleuderte sie ins Schilf.
    »Ist nicht schlimm«, entgegnete er. »Ich habe sie gesehen.«
    Es schien ihm danach ein wenig besser zu gehen. Er schritt nicht mehr ruhelos und mit finsterem Blick an Deck auf und ab. Ich wusste aber, dass er nach wie vor an Iphigenie dachte. An uns beide. Meist sah ich ihn mit einem seiner Speere in der Hand, den er immer wieder in die Luft warf und auffing.
    Allmählich setzte sich die Flotte wieder zusammen. Manche Verbände hatten den weiten Weg an der Südküste von Lesbos vorbei genommen, andere die direkte Route. Letztere warteten auf uns vor Sigeum im Nordwesten Trojas. Wiederum andere folgten wie wir selbst der thrakischen Küste. Wieder vereint, sammelten wir uns bei Tenedos, einer Troja vorgelagerten Insel. Mit Rufen von Schiff zu Schiff verständigten wir uns über Agamemnons Plan: Die Könige sollten die erste Schlachtreihe bilden, deren Verbände im Rückraum ausschwärmen. Die Manöver gerieten zum heillosen Durcheinander. Es gab

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