Das Lied des Dunklen Engels
nachgesucht hatte und noch bevor Lord Simon’s Großvater zum Kloster kam. Die beiden Vorkommnisse wurden routinemäßig aufgezeichnet. Da sie miteinander in Verbindung standen, hat man diesen Teil der Chronik entfernt. Vielleicht weiß Lady Cecily ja mehr darüber.«
Schließlich kam die Priorin zurück. Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch und zog einen verschnürten violetten Samtbeutel unter ihrer Tracht hervor. Sie löste den Knoten, ein goldener Abendmahlskelch kam zum Vorschein, der im Schein der Kerzen funkelte. Die Schönheit des Kelches verschlug Ranulf fast den Atem.
»Reines Gold!« sagte er ehrfürchtig. Neidisch sah er zu, wie die Priorin ihn an Corbett weitergab. »Die Diamanten, unglaublich!«
Ranulf deutete auf die wertvollen Steine, mit denen der obere Rand und der Stiel des Kelches verziert waren.
Corbett wog ihn in der Hand.
»Ich habe Euer Pergament gelesen.«
Lady Cecily setzte sich und seufzte resigniert.
»Jetzt kennt Ihr alle unsere Geheimnisse, Sir Hugh.«
Corbett stellte den Kelch auf den Tisch. »Vermutlich. Alan of the Marsh war der Flüchtige. Im Holy Cross Convent kannte man ihn gut. Er war schließlich Verwalter auf Mortlake Manor und hatte mit den guten Schwestern hier oft geschäftlich zu tun. Alan war vermutlich auch in die Schmuggelaktivitäten verwickelt«, er lachte unvermittelt, »die offensichtlich zu den Traditionen dieses Klosters gehören. Er war aber auch ein Dieb. Er und sein Komplize Holcombe hatten sich des königlichen Schatzes bemächtigt. Sie wären auch unentdeckt entkommen, wäre Sir Richard Gurney nicht so wachsam gewesen. Holcombe wurde gefaßt und gehenkt. Alan tauchte unter.« Corbett nahm den Kelch und betrachtete ihn genau. »Mit Alan of the Marsh war es so wie mit dem ungerechten Haushalter im Neuen Testament. Seine Gier wurde ihm zum Verhängnis. Er konnte mit einem so riesigen Vermögen keinen Hafen passieren - kein Kapitän, der Wind davon bekommen hätte, hätte ihn am Leben gelassen. Corbett schaute die bleiche Priorin an. »Eine Weile versteckte sich Alan in der Eremitage, aber das Netz zog sich immer schneller um ihn zusammen. Er mußte sich nach einem neuen Versteck umsehen.«
»Er kam also hierher?« fragte Ranulf.
»Ja, er kam hierher. Er kannte das Recht auf Kirchenasyl, das ihm die damalige Priorin auch nicht verwehren konnte.« Corbett stellte den Kelch wieder hin. »Ist das die Wahrheit?«
Lady Cecily nickte.
»Während Alan sich also im Kloster versteckte«, fuhr Corbett fort, »schlossen er und die Priorin einen geheimen Pakt. Ich bin mir sicher, daß sie Alan daran erinnerte, daß er bei einer Gefangennahme den Behörden vom Schmuggel der guten Schwestern hier berichten müsse. Er versuchte es natürlich erst mit Überredung, aber dann auch mit Erpressung. Er hatte diesen wertvollen Abendmahlskelch aus dem Schatz König Johns gestohlen und bot ihn der Priorin dafür an, daß das Kloster ihn verstecke.« Corbett sah Lady Cecily an. »Ich vermute, daß er bei der Messe verwendet wird?«
»Ja«, murmelte sie. »Wir sagen immer, es handele sich um eine Donation.«
»Alles verlief also zufriedenstellend«, fuhr Corbett fort. »Das Kloster konnte weiter unentdeckt seine Wolle aus dem Land schmuggeln und bekam außerdem einen wertvollen Kelch. Was wurde aber aus Alan of the Marsh?« Corbett rieb sich die Stirn, die nach dem Schlag, den man ihm am Vortage versetzt hatte, immer noch schmerzte. Dann stand er auf und reckte sich. »Was wird wohl passieren, wenn der König das alles erfährt, na? Ich kann es Euch sagen, Lady Cecily, er würde den Lord of Surrey hierherschicken, der wiederum würde hier alles auseinandernehmen, in der Hoffnung, den Schatz König Johns zu finden.«
»Aber wir haben doch sonst nichts!« begehrte Lady Cecily auf.
»Nein, nein!« murmelte Corbett. »Aber ihr habt Alan of the Marsh.«
Lady Cecily entgleisten die Gesichtszüge. »Aber der Mann ist tot!«
»Oh, sicher ist er tot.« Corbett legte die Hände auf den Tisch und beugte sich zu ihr hinüber. »Verstehst du?« sagte er an Ranulf gewandt. »Die Priorin, die diesen Flüchtigen versteckt und außerdem einen wertvollen Kelch angenommen hatte, war kaum daran interessiert, ihn wieder fortzulassen, oder? Warum sollte sie ihn nicht einfach hierbehalten? Warum sollte sie nicht versuchen, ihm noch mehr Gold abzunehmen? Sagt mir, Lady Cecily, was würdet Ihr tun, wenn Ihr Euch vor dieses Problem gestellt sähet?«
»Ich weiß es nicht«, stotterte sie.
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