Das Lied des Dunklen Engels
verriegelte Lady Cecily die Tür und gesellte sich eilig zu ihnen. Ranulf öffnete die Tasche. Er zog einen großen eisenbeschlagenen Holzhammer aus ihr hervor. Corbett deutete auf den neuen Putz.
»Fang hier an, Ranulf. Ich bin mir sicher, daß du auf eine Tür stößt.«
Ranulf krempelte sich die Ärmel hoch und machte sich freudig an die Arbeit. Corbett und die Priorin entfernten sich etwas. Lady Cecily seufzte, als Ranulf den großen Hammer auf die Wand sausen ließ. Eine große Staubwolke stieg auf, und der Putz stob in alle Richtungen. Corbett mußte husten und bat ihn hastig, innezuhalten. Er betrachtete die Wand.
»Wir sind bald durch«, sagte er. »Mach weiter!«
Im Nu war die ganze Kapelle von Staub erfüllt und der Fußboden von Ziegelstücken bedeckt. Ranulf hämmerte weiter wie ein Besessener auf die Wand ein. Er hatte die Anstrengung jedoch unterschätzt und hielt, auf den Hammer gestützt, inne. Der Schweiß lief ihm von der Stirn.
»Wer auch immer diese Arbeit ausgeführt hat«, sagte er hustend, »hatte es eilig.« Er deutete auf die Mauer. »Zwei Reihen ziemlich schlechter Ziegel und eine Schicht heller Putz, so angepinselt, daß es nicht auffällt.«
Er grinste die mittlerweile vollkommen verzweifelte Priorin an und setzte seine Arbeit mit Schwung fort. Corbett hielt sich ein Taschentuch vor Nase und Mund und sah zu, wie die Öffnung langsam größer wurde. Sie war jetzt etwa zwei Fuß hoch und ebenso breit. Schließlich hielt Ranulf erneut inne. Sie traten alle hustend ein paar Schritte beiseite und warteten, bis der Staub sich etwas gelegt hatte. Lady Cecily warf einen Blick auf die beschädigte Mauer, stöhnte auf und setzte sich. Corbett trat an den Altar, entzündete zwei Kerzen und gab eine davon an Ranulf weiter.
»Jetzt wollen wir doch einmal sehen, welche Geheimnisse sich hier verbergen.«
Sie krochen in die Nische. Corbett hielt seine Kerze hoch, als Ranulf sich hinter ihm durch die Öffnung quetschte. Die Zelle der Anachoretin war eine architektonische Meisterleistung: Sie verschwand vollständig in den Mauern der Kapelle. Corbett hatte schon ähnliche Nischen in der Abtei von Westminster und in der St.-Pauls-Kathedrale gesehen. Diese war etwa sechs Fuß hoch und vielleicht halb so breit.
»Wo wir hereinkamen, war einmal die Tür«, murmelte Ranulf. »Irgendwo müßte auch das Guckloch sein.«
Corbett ließ seine Kerze etwas sinken und schnappte nach Luft. Er bückte sich und ließ die Kerze noch weiter sinken. In der Ecke lag ein Skelett, die Knochen bereits vergilbt. Erst meinte Corbett, noch Fleischfetzen zu entdecken. Als er jedoch näher kam, sah er, daß es sich nur um zerlumpte Kleider und einen ramponierten Ledergürtel handelte. Corbett ließ sich von Ranulf die Kerze geben und stellte sie auf den Fußboden. Ein kleiner Dolch mit einer zerbrochenen Klinge schimmerte im Staub neben dem Skelett. Corbett nahm die Kerze wieder auf. Alan of the Marsh (Corbett wußte, daß nur er es sein konnte) hatte offensichtlich versucht, sich einen Weg durch die Wand zu hacken - ein vergeblicher Versuch, wie die zerbrochene Dolchklinge bewies. An der Wand über dem Skelett war eine skizzierte Zeichnung, sehr ähnlich der, die Corbett in der Eremitage gesehen hatte. Der Bevollmächtigte schaute sich aufmerksam um. Der Raum war leer, der kleine, schäbige Lederbeutel, der am Gürtel befestigt war, ebenfalls.
»Der arme Teufel!« flüsterte Corbett. »Gott sei seiner armen Seele gnädig!«
Er kroch hinter Ranulf aus der Nische und gab der Priorin die Kerzen.
»Es ist Alan of the Marsh«, verkündete er, »oder zumindest sein Skelett.«
Die ehrwürdige Dame hatte an diesem Morgen bereits genug Schreckliches erlebt, und wenn Corbett sie nicht aufgefangen hätte, wäre sie bewußtlos zu Boden gesunken. Er führte sie durch den Chor zum Chorgestühl.
»Was soll ich nur machen?« murmelte sie. »Was soll ich nur machen, Sir Hugh? Was ist damals bloß passiert?«
»Ich vermute«, entgegnete Corbett und setzte sich auf den Platz neben ihr, »daß Alan of the Marsh hierher flüchtete und um
Kirchenasyl nachsuchte. Er verbarg sich in der Nische der Anachoretin, schloß einen Pakt mit der damaligen Priorin, gab ihr den Kelch und versprach, über die Schmuggelaktivitäten des Klosters den Mund zu halten.«
»Hat man ihn lebend eingemauert?« unterbrach ihn Lady Cecily. Schweißperlen bedeckten ihre Stirn.
»Die Wände sind dick genug, um kein Stöhnen oder Schreien durchzulassen«, sagte
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