Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
Kopf.
Draußen erfolgte ein weiterer Schrei, dann stürmte ein Knecht mit einem Knüppel in der Hand in die Kapelle. Der zweite Geck fiel seinem wütenden Schlag zum Opfer.
»Der Merten ist zum Stall!«, keuchte der Knecht.
»Ihm nach!«
John sprang über die Gefällten, Frieder folgte ihm.
Marian aber trat zu Alyss und zog sie fest in seine Arme.
»Bruderlieb«, flüsterte sie.
»Bist du unverletzt, gesund?«
»Ja, ja.«
Gislindis legte ihr die Hand auf den Arm.
»Wir sollten fort von hier.«
Vor der Kapelle lagen drei Männer auf dem Boden, Pfeile steckten in ihren Gliedern. Ein vierter kroch eben in Deckung. Cedric kam aus einem Baum gesprungen, den Bogen in der Hand. Edward hinkte auf sie zu, die Schleuder baumelte an seinem Gürtel.
»Kam nicht hinterher«, sagte er und stöhnte leise. »Fuß.«
»Gebrochen?«
»Vielleicht.«
»Stützt Euch auf mich«, bot Cedric an.
Hufschlag entfernte sich.
»Er hat es geschafft. Verdammt!«
»Lasst ihn laufen, Marian.«
»Oh nein. Den Mörder deines Sohnes werden wir nicht ungestraft davonkommen lassen.«
»Den was?«
»Marian, du bist ein Trottel.« Gislindis nahm Alyss’ Hand und führte sie zum Haus. »Du weißt vieles nicht, was wir herausgefunden haben. Wir berichten dir, aber zuerst müssen wir fort von hier.«
»Sie hat recht, Schwester mein. Ich bin ein Tropf, und wir müssen fort, bevor hier weiterer Aufstand entsteht. Wir haben versprochen, kein Blut zu vergießen.«
Alyss betrachtete den Wachmann, dem ein rotes Rinnsal aus einer Kopfwunde über das Gesicht floss.
»Ach so«, sagte sie und schritt neben Gislindis aus.
Im Hof waren Fackeln entzündet worden, und eine Schar Mägde stand verstört zusammen. Robert saß auf seinem Ross und hielt ihnen eine offenbar äußerst bedrohliche Rede. Cedric und Frieder, beide ihre Bögen bereit, traten vor und zielten auf die Frauen, die sich langsam rückwärts bewegten. John kam mit einem großen Braunen auf sie zu.
»My Lady, seid Ihr bereit, Euch heimführen zu lassen?«
Er war unrasiert, seine Lippe war aufgeplatzt, seine Fäuste blutig, seine Kleidung verdreckt.
Er war der schönste Anblick der Welt.
»My Lord, ich bin bereit.«
Er stieg auf, und Marian half ihr auf den Rücken des Pferdes.
Auch die anderen halfen sich gegenseitig, und schon war die Kavalkade unterwegs. Alyss hielt sich an John fest und legte ihren Kopf an seinen breiten Rücken.
Frei.
Die Nacht war kalt, vom Rhein wehte ihnen ein klammer Wind entgegen, die Sterne am weiten Himmelszelt funkelten.
Frei.
Hufschläge klangen dumpf über die Wege, ein wachsamer Hund schlug an, und über ihr klang das »Uhuu, uhuu« eines jagenden Nachtvogels.
Frei.
John zügelte sein Pferd und drehte sich zu ihr um.
»Wollt Ihr ihn rufen, my Lady?«
»Kann ich das?«
»Ihr zähmtet den Falken. So ruft auch den Künder.«
Sie standen am Rande eines Gehölzes, und Alyss ließ sich vom Pferd gleiten. Mit einer Hand raffte sie das weite Gewand und wickelte sich den Stoff um den Arm. Dann sah sie gen Himmel und sagte leise: »Künder des Schicksals, ich grüße dich. Weisester der Weisen, ich grüße dich. Ich entbiete dir meine Ehrfurcht und meine Verehrung.«
Wie ein Schatten glitt der große Vogel über sie.
»Uhuu, uhuu«, klagte er.
Sie erhob ihren Arm.
Flügelschlagend landete er, schwer und mit harter Kralle. Seine Augen leuchteten im spärlichen Sternenlicht. Langsam drehte der Uhu sein Gesicht zu ihr.
»König der Nacht, Schönster der Jäger, ich danke dir«, flüsterte Alyss ergriffen.
Er spreizte seine Flügel und legte sie um sie. Für einen winzigen Moment lag sein Schnabel an ihrer Stirn. Dann schlug er mächtig mit seinen Schwingen, und Alyss gab ihm mit einem Schwung ihres Armes Hilfe, sich zu erheben. Er flog auf, schwerfällig fast, doch dann mit der Leichtigkeit seiner Art. Noch einmal kreiste er über der Menschengruppe, dann verklang sein unheimlicher Ruf in der Weite.
»My Lady«, flüsterte Cedric und verbeugte sich.
»Hochedle Dame«, sagte auch Gislindis.
»Frau Herrin«, kam es von Frieder, Robert und Edward verneigten sich, und die vier Knechte beugten die Knie.
Die Seide, zerfetzt von den Klauen, glitt von Alyss’ Arm, doch hoch aufgerichtet stand sie da.
Frei.
Erfüllt von Demut und Macht.
Frei.
»Lasst uns den Fährmann wecken. Ich möchte nach Hause«, sagte sie.
40. Kapitel
S ie war daheim, war in ihrem eigenen Gemach aufgewacht, hörte die Geräusche des rumorenden Hauswesens, und doch lag
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