Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
sie mit verkrampften Gliedern in ihrem Bett. Mehr als zwei Wochen hatte sie unter namenloser Anspannung gelebt, und nun hätte sie frohgemut ihren Pflichten nachgehen sollen. Dennoch fühlte sie sich, als ob sie von Bleigewichten niedergedrückt würde.
Das Tageslicht fiel schon hell durch die Ritzen der hölzernen Läden, Holzrauch, Bratenduft, Lavendel und Rosen roch sie. Vertraute Gerüche. Benefiz’ sich überschlagendes Kläffen, das Schnattern der heidnischen Völker, ein aufgeregtes Gackern, Hildas beschwörende Stimme und Lauryns Lachen. Vertraute Geräusche.
Warum schaffte sie es nicht, sich aus dem Bett zu erheben?
Das Knarren des Hoftors, aufgeregte Stimmen, Schritte auf der Stiege.
Die Tür öffnete sich, und Frau Almut kam herein.
»Kind.«
»Mama.«
Und an die Brust ihrer Mutter gedrückt, begann sie zu weinen.
Danach war es leichter, aufzustehen. Hilda hatte ein Bad für sie gerichtet und das kostbare Osterwasser hineingegossen. Gislindis half ihr, sich zu waschen, ihre eigenen Kleider lagen bereit, auch der silberbeschlagene Gürtel mit ihrem Siegelmuster und der Falkenring. Und während ihre Haare vor dem Kaminfeuer im Saal trockneten, berichtete ihre Freundin, was sie in den vergangenen Tagen herausgefunden hatten.
»Meinen Sohn hat er ertränkt«, murmelte sie nach einer langen Pause, in der Gislindis sacht ihre Locken ausbürstete. »Dafür wird er in der tiefsten aller Höllen büßen müssen. In einer Hölle hier auf Erden.«
»Das wird er.« Gislindis legte die Bürste nieder und setzte sich ihr gegenüber auf einen Schemel. »Er wird in schreiender Angst sterben.«
Alyss sah in die schillernden Augen der Seherin und glaubte ihr.
»Ihr habt viel erfahren, Gislindis, aber warum hat er diese Intrige in die Wege geleitet?«
»Dazu werden Euch Frau Catrin und Eure Mutter mehr sagen können. Sie haben mit Trude de Lipa gesprochen.«
»Dann bitte Catrin zu mir, Gislindis. Ich brauche Klarheit.«
Sie waren alle sehr rücksichtsvoll, stellte Alyss fest. Immer nur einer war bei ihr, immer nur Frauen. Sogar Marian hielt sich zurück. Catrin aber berichtete in ihrer sanften Art von der sanften Art, wie sie und Mutter Almut die Trude zum Reden gebracht hatten. Die abergläubische Alte war mit starkem Wein, süßen Kuchen und drohenden Omen traktiert worden und hatte sich schließlich höchst giftig über ihren Enkel geäußert. Merten, Sohn ihrer Tochter, hatte sehr früh den leiblichen Vater verloren. Er wäre der Erbe eines reichen Weinhändlers gewesen, hätte seine Mutter nicht Arndt van Doorne geehelicht. Der hatte wenig für den Jungen übrig, doch das Vermögen der Witwe zerfloss unter seinen unfähigen Händen. Nach außen hin hatte Arndt immer mit seinen geschäftlichen Erfolgen geprahlt, doch sein Verständnis für Besitz und Eigentum war sehr eingeschränkt. Wann immer er Münzen in die Hand bekam, betrachtete er sie als sein Eigen. Alyss nickte zu der Ausführung.
»So hat Robert ihn auch einst geschildert«, sagte Catrin. »Das war der Grund, warum die Brüder nicht miteinander auskamen. Mehr als einmal hat Robert Arndts Schulden begleichen müssen.«
»Und so, wie Arndt es vorlebte, hat der junge Merten es gelernt. Nur, dass er dazu auch noch faul war. Jetzt verstehe ich, warum mir die Worte des Dichters Freigedank in den Sinn kamen.
›Vom ersten, was im Fasse lag
Behält es immer den Geschmack;
Es lässt gar zu schwer ein Mann,
Was er von Jugend auf getan.‹«
»Ja, einen üblen Nachgeschmack hat Arndt auch da hinterlassen. Er hätte sich um seinen Stiefsohn kümmern müssen. Eine Schuld mehr, die er auf sich geladen hat. Es war nichts Gutes an diesem Mann«, sagte Catrin und zog ein für ihre Verhältnisse geradezu böses Gesicht.
»Arndt tätigte Geschäfte und hat für Wein eine gute Hand gehabt«, meinte Alyss nachdenklich.
»Das ist sicher richtig. Aber Merten hat, wie Trude es beschrieb, durchaus gemerkt, wie verschwenderisch sein Stiefvater sich verhielt, und sah es als sein gutes Recht an, ebenso ausschweifend zu leben. Er glaubte, Arndt sei im Besitz eines unermesslichen Vermögens. Dass der nach dem Tod seiner Frau dann dich heiratete, gefiel Merten gar nicht. Denn damit bestand die Gefahr, dass Arndt einen leiblichen Erben zeugte.«
»Er hätte jedes Kind von mir umgebracht«, sagte Alyss tonlos.
»Nun, eine Tochter vielleicht nicht, aber sicher jeden Sohn.«
»Seine Seele möge verrotten.«
»Möge sie. Aber schlimmer wurde es, Alyss, als er
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