Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
Dieses hirnlose Schwein, das ihr, als sie noch bei ihnen untergekrochen war, jede kleine Münze gestohlen hatte, der sie ständig grün und blau geschlagen hatte und der sich an ihrem Leib vergreifen wollte, wann immer er ihrer alleine habhaft werden konnte.
Herr Master John hatte ihm die Prügel seines Lebens verabreicht.
Ob er sich an der Frau Herrin deshalb rächen wollte?
Warum hatte noch keiner daran gedacht?
Ob sie selbst mal zum Fischmarkt gehen sollte?
Kalter Schweiß brach ihr bei dem Gedanken aus.
Nein, alleine nicht. Sie käme lebend nicht zurück. Zumindest Begleitung brauchte sie. Herr Master John wäre recht, aber vor dem würde der Knieskopp nur Reißaus nehmen. Herr Robert – nnnnein. Mit dem war sie noch nicht so vertraut. Er brauchte nicht zu wissen, aus welcher trüben Gosse sie stammte. Frau Catrin war zu fein, und Frieder? – Thys würde ihn halb totschlagen.
Aber da war noch die seltsame Frau, die Zaubersche, die im Winter oft bei der Frau Herrin vorbeigeschaut hatte. Die Schlyfferstochter mit den unheimlichen Augen. Die würde dem Thys Angst einjagen. Sie machte ja sogar Lore Angst.
Huh, wie die einen anschauen konnte.
Und was die sah mit ihren unergründlichen Augen!
Einmal, am Neujahrstag, da hatte sie ihre, Lores, Hand genommen und lange hineingeblickt. Und von Unschuld und Treue gesprochen, von Liebe und Hingabe. Und von einem aufrechten Mann, der einst die Wunden schließen würde, die man dem hilflosen Kind geschlagen hatte. Ganz heiß war ihr dabei geworden. So große Worte waren das gewesen, und die Augen der Zauberschen hatten geschillert wie Öl in einer Wasserpfütze.
Heute Morgen, wenn der Tisch vom Frühmahl gesäubert war, würde sie einen Vorwand finden, die Schlyfferstochter aufzusuchen.
Ja, das war ein guter Plan.
Herold kündete den Sonnenaufgang, und Denise murrte verschlafen. Lauryn aber reckte sich und lächelte ihr zu.
»Ausgeschlafen, Lore?«
»Schon lange!«
Frieders Stiefel sollten zum Flickschuster gebracht werden, und Lore hatte sich bereit erklärt, diesen Gang zu machen. Als das Schuhwerk abgegeben war, überquerte Lore den Alter Markt. Schon von Weitem hörte sie das Kreischen des Schleifsteins, und als sie näher kam, hörte sie auch die Stimme, die lustige Verse sang:
»Hört den Schleifstein heiter singen,
bringt die Messer, Scheren, Klingen.
Lasst sie schärfen, lasst sie wetzen,
nur nicht eilen, nur nicht hetzen,
jeder kriegt nach dem Bedarf,
Mats Schlyffers macht die Klingen scharf.«
Gislindis trug ein blaues Kleid und schwenkte die Röcke bei ihrem Gesang. Unter dem weißen Tuch ringelten sich ein paar Locken hervor, und ihre Augen – jetzt gar nicht unheimlich – lachten den Kunden zu, die mit allerlei stumpfem Gerät bei ihrem Vater warteten. Als sie Lore bemerkte, tänzelte sie zu ihr, und ihr Gesicht wurde plötzlich ernst.
»Bringst du Neuigkeiten, Lore?«
»Nein, Frau Schlyfferstochter. Nur, ich hab nachgedacht.«
»Ich auch. Komm zur Mittagszeit in mein Haus.«
»Ja, is jut.«
Der Frau Catrin musste sie eine kleine Lüge erzählen, weil besser niemand wissen sollte, was sie vorhatte. Aber nur eine ganz kleine, nämlich dass sie zu den Bejinge gehen wollte, und das machte sie auch und half der Frau Cornelia beim Fischeschuppen. Aber dann ging sie zu dem Häuschen an der alten Stadtmauer.
Die Schlyfferstochter schmierte ihr ein Schmalzbrot, schön mit Grieben und gerösteten Zwiebeln, und sie hörte zu. Dann nickte sie.
»Nach dem Blumenkohlohr-Mann habe ich mich auch schon umgeschaut. Aber ich glaube nicht, dass so ein Mann Frau Alyss entführt hat, Lore. Es wird ein Herr sein, der dahintersteckt. Und Thys wäre gewiss ein brauchbarer Helfer, da hast du richtig überlegt. Wir werden uns am Fischmarkt etwas umhören. Oder besser, ich werde Mats’ Dienste anbieten und dabei die Ohren aufhalten – Fischermesser müssen scharf geschliffen sein, denn die Haut der Fische ist zäh.«
Lore merkte, wie ihre Schultern leichter wurden. Sie musste nicht ihrer Schwester Trudlin und dem Stiesel Thys begegnen.
»Ich geh bis Brigiden mit und warte da auf Euch. Und Ihr sagt mir, was Ihr gehört habt?«
»Natürlich.«
»Aber seht Euch vor, der Thys is ene fiese Rabau.«
»Und ich ene Düvvelsbalg!«
Anerkennend nickte Lore. Es bestätigte ihr, dass die Schlyfferstochter eine Zaubersche war. Allerdings eine gute, vor der man keine Angst haben musste. Wenn sie einem denn nichts Böses wollte.
Sie begleitete sie bis zu der
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