Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
einzusperren, um sie gefügig zu machen. Niemals.
Und John of Lynne achtete er als ehrenwerten Mann, als Freund seines Sohnes, als Geschäftspartner von Robert. Er hatte ihm sein Leben anvertraut, und er hütete Johns Geheimnis seiner Herkunft. Ihre Mutter aber sah in John den Mann, den sie an der Seite ihrer Tochter wünschte. Und nun, da sie beide von den Banden befreit waren, würden sie den gemeinsamen Weg gehen.
Sofern John gesund von seiner Reise zurückkam.
Was also steckte denn nun wirklich hinter dieser Entführung?
Wieso hatte Duretta behauptet, man habe ihr die Kleider fortgenommen, um ihre Familie davon zu überzeugen, sie sei ertrunken?
Das alles ergab doch gar keinen Sinn!
Alyss setzte sich wieder an das Fenster, öffnete das Flügelchen und blickte über das dunstige Land. Die Sonne sog aus den feuchten Feldern Nebel, es wollte nicht recht klar werden an diesem Tag. Aber die Amsel schien es nicht zu stören. Sie saß in der Buche vor der Burg und sang ihre heiteren Weisen aus voller Kehle.
In Durettas Rede schwangen so viele falsche Töne mit, und doch konnte es keine reine Erfindung sein, was sie da behauptete.
Man schätzte den Herrn vom Spiegel gelegentlich falsch ein. Sie erinnerte sich an das Donnerwetter, das er über Marian hatte niederfahren lassen, als der in Weiberkleidern das Handwerk der Hebammen gelernt hatte. Sie selbst hatte ihren Vater darum gebeten, denn Marian, geliebter Sohn und Erbe, war noch nie in den Genuss der väterlichen Strafpredigt gekommen und hatte sich deshalb minderwertig gefühlt.
Das Hauswesen war Zeuge des erbarmungslosen Gewittergrollens gewesen, und nur Catrin, Alyss selbst und ihr Bruder hatten das Vergnügen verspürt, mit dem der Allmächtige einen Wurm in den Staub trat. Nicht, dass sie ihn nicht ernst genommen hätten, doch die verbalen Schläge fielen so gekonnt, dass allen Zuhörern die Meisterschaft den Atem geraubt hatte. Marian hatte vor Lachen beinahe in die Dielen gebissen, ihr hatte der Bauch geschmerzt, und Catrin hatte sich fast die Wangen durchgebissen.
Wer immer aber den Herrn vom Spiegel als das nahm, was er demonstrierte, und nicht die tiefe Liebe und Sorge hinter dieser Wortgewalt kannte, der musste annehmen, dass er alles so meinte, wie er es sagte.
Enkelkinder – sie hatte Terricus verloren und keine weiteren Kinder mehr bekommen. Niemals hatten ihre Eltern sie darauf angesprochen, nie gefordert, ihnen weitere Enkel zu schenken. Sie hatten gewusst, wie sehr sie unter dem Verlust gelitten hatte, und sie hatten mitbekommen, wie Arndt van Doorne sich mehr und mehr von ihr entfernt hatte.
Wer hatte Duretta diesen Floh ins Ohr gesetzt?
Unruhig strich sie in der Kemenate auf und ab, und als sie zum zweiten Mal an dem Korb mit Honigkuchen vorbeigekommen war, fiel ihr etwas Absurdes ein.
Marian hatte häufig Honigkuchen aus der Küche gemopst, um sie Gislindis mitzubringen, als er noch mit ihr getändelt hatte.
Gislindis.
Warum hatte sie bisher nicht an sie gedacht?
Gislindis war ihr im letzten Jahr eine gute Freundin geworden, und in der einsamen Zeit der Wintermonate hatte sie sie oft besucht, um zu plaudern und ihre Übungen im Lesen und Schreiben mit ihr zu machen. Ihre Zurückhaltung gegenüber Marian, die ihn so sehr betrübt hatte, war nach und nach gewichen, und einmal hatte sie ihr sogar anvertraut, dass Ivo vom Spiegel ihr geraten habe, Marian dazu zu überreden, sie zu heiraten.
Der Allmächtige war von großer Toleranz, und ständisches Denken wischte er gerne mit einem verächtlichen Handwedeln vom Tisch. Dass die Schlyfferstochter von einem Handwerker und einer Fahrenden abstammte, würde ihn nie stören. Ihre Mutter mochte vielleicht ein wenig anders denken, aber Gislindis hatte Ivo vom Spiegel das Leben gerettet, und das würde auch ihre Bedenken besiegen. Alyss selbst wünschte sich sehr, dass Marian sein Glück mit Gislindis fände, sie wusste, dass er ihr zugetan war, sie bewunderte und von ihr fasziniert war. Die Gabe, die sie besaß, barg keinen Schrecken für ihn.
Und wenn er in Köln war, dann würde er Gislindis bitten, nach seiner Schwester zu suchen.
Gislindis hatte aber nicht nur hellsichtige Erkenntnisse, sondern auch ausgesucht feinhörige Ohren. Ebenso wie ihr Vater Mats. Sie würden lauschen und fragen und Antworten finden.
Plötzlich zog ein kalter Schauder über Alyss’ Arme, und sie hörte Gislindis’ Stimme, die sie vor noch nicht allzu langer Zeit gewarnt hatte, als es klar wurde, dass sie und
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