Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
kleinen Pfarrkirche neben Groß Sankt Martin, die der heiligen Brigitte gewidmet war. Unterhalb des Klosters drückten sich die Häuser und Katen der Fischer zusammen, dort aber blieb Lore zurück und setzte sich mit einem schrumpeligen Apfel auf die Stufen zur Kirche nieder. Langsam kauend beobachtete sie das Treiben in dem schmuddeligen Viertel. Zwei Katzen balgten sich lautstark um einen Fischschwanz, ein gekrümmter Greis zerrte ein Netz hinter sich her, das er wohl zu flicken gedachte, einige Frauen trugen Holzeimer mit dem glitschigen, zappelnden Fang vom Ufer hoch, Möwen umkreisten aufmerksam die Boote, um ihren Hunger am Anteil der Beute zu stillen, ein räudiger Hund kläffte auf, als ein derber Tritt ihn traf. Es stank nach vergammeltem Fisch, Rauch und angebranntem Brei.
Nicht nach sauberem Leinen, Honigkuchen und Lavendel.
Lore, die wenig von Gott und den Heiligen wusste, seufzte leise und dankte der einzigen himmlischen Frau, die ihr irgendwie vertrauenerweckend erschien, der Mutter Maria, dass sie diesem Viertel entkommen war.
Die Glocken von Groß Sankt Martin hinter ihr ließen machtvoll ihre Stimme ertönen, und der Gesang der Mönche drang zu ihr hinaus. Die Non teilte den Nachmittag, was aber für die Fischer kaum eine Bedeutung hatte. Hier gab es keine Gebete und Gesänge.
Hier gab es Gebrüll und Gekreisch.
Und als Lore die schrille Stimme ihrer Schwester hörte, sprang sie auf, um sich vor ihr zu verstecken. Doch kaum hatte sie sich hinter der Mauer von Brigiden verborgen, sah sie die Schlyfferstochter auf sie zulaufen. Eine Gruppe zeternder Weiber folgte ihr, warf mit faulem Fisch und Steinen nach ihr. Einer traf ihren Leib, einer ihre Beine, ein dritter prallte an ihren Kopf, und sie stolperte.
Lore rannte los. Die Frauen wollten über die Gestürzte herfallen, die aber rappelte sich auf und kam schwankend auf die Füße.
»Hierher!«, schrie Lore und wedelte mit den Armen.
»Haltet die Zaubersche!«, brüllte jemand, und weitere Fische und Steine flogen auf sie zu. Lore hatte die Schlyfferstochter erreicht und packte ihre Hand.
»Lauft, lauft!«
Humpelnd folgte sie ihr. Das Leben auf der Straße hatte Lore viele Schlupflöcher gewiesen, und nach wenigen Schritten fand sie einen schmalen Durchschlupf zwischen zwei Katen. Keuchend drückte sich die Zaubersche an die Wand.
»Die laufen vorbei. Bleibt ganz ruhig.«
Aber diese Mahnung war überflüssig, die Schlyfferstochter war zusammengesackt, und Blut strömte über ihr Gesicht.
Panik machte sich in Lore breit.
Blut war ganz schrecklich. Man konnte sterben, wenn so viel Blut floss. Sie spähte auf die Gasse. Das Weibervolk war verschwunden, hatte seine Beute verloren.
Sie musste Hilfe holen.
Hier ganz in der Nähe wohnte der hochedle Herr.
Ob er der Schlyfferstochter beistehen würde?
Lore biss sich auf die Lippen. Sie hatte eine Höllenangst vor dem Herrn Ivo. Er konnte so gewaltig sein.
Aber er hatte sie auch einmal getröstet.
Noch einmal sah sie zu der Bewusstlosen hin.
Sie musste es probieren. Es war nicht weit.
Lore nahm die Beine in die Hand und erreichte das Patrizierhaus. Mit ihren Fäusten trommelte sie an die Tür. Es dauerte entsetzlich lange, bis ihr ein alter Mann aufmachte.
»Helft mir, Herr. Hilfe!«
»Scher dich weg, Schmutzfink!«
Die Tür knallte zu.
»Macht auf. Hilfe! So helft mir doch«, schrie Lore in höchster Not. »Ehrwürdige Herren, helft, zu Hilfe, Hilfe!«
Ein Fenster flog auf, Frau Almuts Kopf erschien.
»Lore?«
Das Mädchen schluchzte.
»Hilfe. Bitte!«
»Sofort. Marian!!!«
Dann ging die Tür wieder auf, und die Herrin selbst erschien.
»Was ist, Kind?«
»Die Sch… Schlyfferstochter, Frau Herrin. Verletzt. Dem Tode nahe.«
»Marian!«
Der stürzte herbei.
»Lore, wo ist sie?«
»Unten, bei Brigiden. Hab sie versteckt.«
»Lauf vor.«
Das tat sie, und Herr Marian folgte ihr mit seiner Frau Mutter.
Die Zaubersche steckte noch immer in dem Einschlupf, und gemeinsam hoben sie sie vorsichtig heraus.
»Nimm ihre Schultern, Marian, ich schaffe es mit ihren Beinen.«
»Lasst mich sie tragen.«
»Gut, heb sie vorsichtig an. Was ist passiert?«
»Steine. Sie haben Steine auf sie geworfen. Die Fischwieever.«
Sie trugen sie zum Haus, und als sie an dem alten Mann vorbeikamen, zischte die Frau Herrin ihn dermaßen fies an, dass er zusammenzuckte.
»Deine Tage sind gezählt, Haushofmeister. Einen Mann, der so viel fauliges Heu in seinem Schädel hat, dass es schon
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