Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
Recht.
Ihre Eltern hatten sie nie verheiraten wollen, sie hatten sogar ihre falsche Wahl akzeptiert und Arndt van Doorne als Schwiegersohn in die Familie aufgenommen.
Duretta und ihr Bruder, der bisher unsichtbar geblieben war, wussten wenig von ihr. Wenn ihre Vermutung stimmte und Merten derjenige war, der sie mit Auskünften über sie und ihre Familie versorgt hatte, dann hatte auch er einen gänzlich falschen Eindruck von ihr gewonnen.
Warum hatte er dafür gesorgt, dass sie entführt wurde?
Oder war das die Tat eines anderen, dem er das falsche Bild gezeichnet hatte?
Von unten drang Stimmengemurmel zu ihr hoch, die Bewohner des Rittergutes gingen zur Kapelle, um dem Gottesdienst zu folgen.
Und am Riegel der Tür erklang ein leises Scharren.
Nicht Duretta. Sie schob den Riegel immer geräuschvoll auf.
Nahte Hilfe?
Alyss drehte sich voller Hoffnung um.
Einen Spalt breit öffnete sich die Tür.
»Frau Alyss?«, wisperte es. »Seid Ihr hier?«
»Ja«, flüsterte sie zurück und hielt den Atem an. Die Tür ging weiter auf, und ein Mann schlüpfte in die Kemenate.
»Merten?« Fassungslos sah sie ihn an.
»Frau Alyss, es ist also wahr. Dieser verdammte Kerl!«
»Wer? Wie hast du mich gefunden? Wer weiß sonst noch, dass ich hier bin?«
»Edgar von Isenburg entführte Euch. Er ist ein Idiot. Verdammt, was habe ich da angerichtet!«
Alyss schwankte leicht, eine Welle der Erleichterung durchwogte sie. Merten hatte sie gefunden. Sie würde freikommen. Langsam setzte sie sich auf die Bank im Fenstererker. Merten nahm ihr gegenüber Platz und nahm ihre Hände in seine.
»Schnell, erzählt mir, was Euch passiert ist.«
»Ich hatte eine Lieferung, Merten. Euer Auftrag. Beim Müller an der Schafenpforte. Ich brachte die Fässer mit Peer dorthin. Und als ich vom Karren stieg, wurde ich hinterrücks niedergeschlagen. Ich bin erst wieder aufgewacht, als man mich in einem Sack verpackt über den Rhein brachte. Seither bin ich in dieser Kemenate eingeschlossen. Nur Duretta kümmert sich um mich.«
»Die Schwester des Hausherrn.«
»Sie wollen mich verheiraten. Angeblich, weil mein Vater es wünscht. Aber das ist eine Lüge, Merten.«
»Ich habe erst vor zwei Tagen erfahren, dass Ihr vermisst werdet. Ich …«
Die Tür wurde aufgerissen, und ein wütender Mann stürzte sich auf Merten.
»Kerl, wer hat dir erlaubt, die Kemenate zu betreten?«
Ein wuchtiger Faustschlag streckte Merten zu Boden. Der Mann zerrte ihn an seinem Wams zum Ausgang.
»Haltet durch!«, keuchte Merten noch, bevor die Tür wieder zugeschlagen und der Riegel vorgelegt wurde. Von draußen erklang dumpfes Poltern, Schreie und Gebrüll.
Dann herrschte wieder Ruhe.
Alyss merkte, dass sie zitterte.
Rettung war so nahe gewesen.
Doch der Retter war entdeckt worden.
Was würden sie ihm antun?
Ihre Welt brach wieder in Trümmer.
Bar jeder Hoffnung presste sie ihre Stirn gegen die Steine der Wand.
32. Kapitel
B ring ihn zu Vater Lodewig«, sagte Marian.
Robert fuhr sich durch die Haare und seufzte, John hatte die Beine ausgestreckt und hielt seine Lider halb geschlossen. Sie saßen nach der Messe über Lucien zu Gericht, der nach seiner Haft nun aus der Wäschekammer befreit worden war. Der Junge hatte ein trotziges Gesicht aufgesetzt und schwieg beharrlich.
»Was soll der Abt mit ihm machen, Marian? Für seine schwarze Seele beten?«, fragte John schließlich.
»Exerzitien wirken bei manchen Missetätern läuternd.«
»Isch will nix beten.«
»Was du willst, Lucien, ist hier nicht von Bedeutung. Was meinst du, Robert?«
»Die Weidenrute hat nichts genützt, Catrins Güte hat nichts genützt, die Gesellschaft der beiden Jungen hat er abgelehnt. Ja, bringen wir ihn ins Kloster.«
»Einen Versuch ist es wert. Sprich du mit Father Lodewig, Marian.«
»Ich mache mich sogleich auf den Weg. Anschließend schaue ich noch bei Meister Hans vorbei. John, sorg dafür, dass der Sünder in seiner Kammer bleibt. Trockenes Brot und Wasser seien ihm gestattet.«
Marian erhob sich und schenkte dem Jungen noch einen langen, mahnenden Blick. Mochte sein, dass vier Wochen stille Einkehr, Schweigen und Studium der Schrift die schwelende Bösartigkeit wandeln konnten. Wenn es nur übermütige Streiche waren, geboren aus Langeweile und Einsamkeit, dann gelangte der Bengel vielleicht bei den Benediktinern von Groß Sankt Martin zu besserer Einsicht. Wenn seine Seele jedoch vom Geist des Bösen beherrscht wurde, dann würde auch das nicht helfen. Aber
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