Das Lied des Kolibris
würde Imaculada ihr nicht zur Seite stehen und ihr schon gar nicht zur Flucht verhelfen können. Zwar hatte Imaculada alte Freunde auf der Nachbarfazenda, aber ob diese ihrem Plan gegenüber offen waren, wusste sie nicht. Drei jungen Leuten, die sie lange kannten, bei der Flucht behilflich zu sein, war schließlich etwas ganz anderes gewesen, als eine Fremde darin zu unterstützen, ihren Liebsten wiederzufinden.
Natürlich war das nicht alles, was Imaculada sich wünschte. Mbómbo und Lua zusammenzubringen und ihnen eine Zukunft als freie Menschen zu ermöglichen hatte durchaus auch eigennützige Gründe. Sie wollte, dass ihre Geschichte überlebte. Und anders als in Afrika, wo es die Tradition der Chronisten gegeben hatte, die allein dank mündlicher Überlieferung über die Geschehnisse vieler Jahrhunderte unterrichtet waren, ja sogar die Stammbäume ganzer Dörfer hersagen konnten, waren die Menschen in Brasilien dem Geschriebenen hörig. Was aufgeschrieben wurde, zählte und überdauerte. Alles andere nicht.
Man sah es schon an den Sklaven auf São Fidélio. Kaum einer von ihnen kannte überhaupt seine Eltern, geschweige denn die Großeltern. Wie sollte ein Mensch in Würde leben können, wenn er nicht das Geringste über seine Ahnen wusste und ihnen demnach auch nicht den nötigen Respekt entgegenbrachte? Und solange Sklaven nicht des Lesens und Schreibens mächtig waren und ihre Abstammung oder ihre Leidensgeschichten nicht schriftlich festhalten konnten, würden sie auch immer so entwurzelt bleiben müssen. Die meisten von ihnen verleugneten gar ihre afrikanische Herkunft, selbst wenn ihre Großeltern noch gebürtige Afrikaner gewesen waren!
Imaculada schrak aus ihren Gedanken hoch, als sich forsche Schritte näherten. Dom Felipe höchstpersönlich kam des Wegs. Sie tarnte sich augenblicklich als verblödete Alte, die tagaus, tagein vor der Senzala hockte und sabbernd das Geschehen aus trüben Augen verfolgte. Das funktionierte immer. Wenn man nur alt und senil genug wirkte, nahm einen niemand zur Kenntnis. Es war fast so, als wäre man unsichtbar, und seit Imaculada dies bemerkt hatte, wandte sie diesen Trick häufig an. Manchmal war sie nicht einmal sicher, ob sie nicht wirklich unsichtbar wurde, so gut klappte es. Von der alten Heilerin, bei der sie vor Urzeiten in die Lehre gegangen war, hatte sie gelernt, dass der menschliche Wille von unermesslicher Kraft sein konnte und dass man mit einem beflügelten und einschlägig geschulten Geist sämtliche körperlichen Hindernisse überwinden konnte. Zeit ihres versklavten Lebens hatte Imaculada geglaubt, dass ihr Geist und ihr Wille einfach zu schwach waren, um auf diese Weise ihrem Martyrium zu entgehen. Man hatte sie zu früh entführt. Wäre sie in ihrem Dorf geblieben und hätte weiterhin den Lehren der Heilerin gelauscht, wäre ihr diese spirituelle Beherrschung alles Körperlichen gewiss gelungen. Nun jedoch glaubte sie, dass sie vielleicht nur zu jung gewesen war. Womöglich verfügte sie jetzt, als Alte, tatsächlich über die Kräfte, die die anderen Sklaven ihr nachsagten?
Dom Felipe marschierte forschen Schrittes zum Waschhaus. Als er die Senzala passierte, sah er die verrückte Greisin dort hocken. Er wandte den Blick ab. Es war widerlich, was mit manchen Negern passierte, wenn sie alt wurden. Und als guter Christenmensch musste er diese nutzlosen Geschöpfe auch noch durchfüttern! Niemals hätte es seine Frau ihm gestattet, die Alten in die Freiheit zu entlassen, so wie es jeder vernünftige Fazendeiro tun würde. Ach, hol sie doch der Teufel! Er sollte sich lieber auf das konzentrieren, was er jetzt im Schilde führte.
Es war ein ebenfalls unchristliches Vorhaben, aber je länger er darüber nachgedacht hatte, desto dringlicher erschien es ihm. Ja, er war geradezu besessen von dem Gedanken, Lua besitzen zu müssen. Allein die Vorstellung von ihrem glatten hellbraunen Fleisch ließ ihn vor Erregung hart werden! All die Jahre hatte er das Mädchen beobachtet, und seit sie flügge geworden war, hatte er sie begehrt. Doch es waren nicht nur die Vorhaltungen seiner Gemahlin, die er gefürchtet hatte, denn Dona Ines billigte die Vereinigung von Schwarzen und Weißen nicht. Es waren vielmehr die Strafen, die der Herrgott im Himmel auf ihn herabfahren lassen würde, die ihn immer davon abgehalten hatten, die junge Sklavin zu nehmen, wie es doch als ihr Besitzer eigentlich sein gutes Recht war. Immerhin war Lua höchstwahrscheinlich die Frucht
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