Das Lied des Kolibris
ignorierend, ging sie hocherhobenen Hauptes weiter. Dabei legte sie so viel Anmut in ihren Gang, wie es ihr angesichts der Umstände möglich war.
»Da stolziert sie, die eingebildete Pute, ganz die feine Dame, was?«, rief der Pockennarbige ihr hinterher.
»Ja, aber mit einem so hübsch ausgestreckten Hinterteil, dass man gleich auf ganz unfeine Gedanken kommt«, hörte sie José Careca grölen.
Kaum war sie um die Ecke gebogen und den Blicken dieser lüsternen Grobiane nicht mehr ausgeliefert, nahm sie die Beine in die Hand. Sie erreichte den Küchentrakt der Casa Grande keuchend und verschwitzt. Die anderen Haussklaven saßen bereits um den riesigen Küchentisch und frühstückten. Atemlos ließ sie sich auf ihrem angestammten Platz zwischen Fernanda und der dicken Maria fallen. Die beiden schauten sie fragend an, doch Lua achtete nicht auf sie, sondern griff beherzt nach dem Brotkorb.
Eines der Privilegien, die die Haussklaven genossen, war, dass sie in der Küche ihre Mahlzeiten einnehmen durften. Die Köchin und ihre Gehilfinnen ließen ihnen dabei stets ein paar Leckereien aus dem Vorrat der Herrschaft zukommen. Lua schätzte, dass Dona Ines genau wusste, dass sie sich an ihren Blutwürsten und Käselaiben gütlich taten, es jedoch stillschweigend duldete. Auch die Haussklaven aßen
beijús
, die Tapioka-Fladen, wie sie sich die Arbeiter zubereiteten, doch die in der Casa Grande waren reichlich gefüllt, je nach Geschmack herzhaft oder süß, etwa mit Käse oder mit Marmelade. Sie bekamen ab und zu »Studentenbällchen« mit Zimt und Zucker zu essen, herrlich klebrig süße Klößchen aus Tapioka und Kokosnuss, und ganz selten kamen sie sogar in den Genuss echter Weizenbrötchen. Heute war ein solcher Tag, und Lua bedauerte, so spät dran zu sein, denn viele Brötchen befanden sich nicht mehr in dem Korb.
»Schling doch nicht so«, tadelte sie die dienstälteste Haussklavin, die man ehrfürchtig
tia
, Tante, Jacobina nannte.
»Hast du letzte Nacht einen größeren Marsch gemacht, oder wieso bist du so hungrig?«, begehrte Fernanda zu wissen.
»Größerer Marsch, pah! Ich denke mal, sie hat länger gelegen, als ihr guttut – und zwar bei einem Mann«, antwortete die dicke Maria an Luas Stelle und lachte lauthals über ihre vermeintlich komische Bemerkung.
»Du missgünstiges Weib«, waren die einzigen Worte, die Lua zwischen zwei gierigen Bissen in ihr dick belegtes Brötchen hervorbrachte.
»Also stimmt es!«, rief Maria triumphierend aus.
Lua schüttelte verneinend den Kopf und verdrehte die Augen.
»Ich wette, es war der Neue«, mutmaßte die andere weiter.
Luas Gesicht wurde glühend heiß. Wie froh sie war, dass sie nicht die blasse Haut der Sinhazinha besaß, auf der sich nun eine verräterische Röte abgezeichnet hätte!
»Er hat sie gestern ganz verzückt angestarrt«, schlug nun auch die kleine Aninha in dieselbe Kerbe.
»Wen auch sonst?«, versuchte Fernanda, ihre Freundin zu verteidigen. »Wisst ihr eine auf São Fidélio, die hübscher ist als unsere Lua? Na also. Mit diesem Engelsgesicht und diesem sündigen Körper kann keine von uns konkurrieren.«
»Schluss mit dem Quatsch!«, ging Lua dazwischen, nachdem sie den letzten riesigen Bissen heruntergeschluckt hatte. »Ich habe nichts mit dem Neuen, und die meisten von euch dürften mich in der vergangenen Nacht selig schlummernd in meiner Hängematte gesehen haben.«
Ihr Blick traf ganz kurz auf den von Lulu. Sie erschrak angesichts des Hasses, der sich darin zeigte. Lulu war ein junger Haussklave, der für sie schwärmte, seit er vor vier Jahren nach São Fidélio gekommen war. Allerdings erwiderte Lua seine Gefühle nicht. Sie konnte den Kerl nicht leiden, denn er war hochnäsig. Er sah recht gut aus und schien klug zu sein, was ihm einen schnellen Aufstieg innerhalb der Hierarchie der Haussklaven sowie die Anbetung zahlreicher jüngerer Mädchen beschert hatte. Dennoch stieß er Lua ab; sie konnte nicht einmal genau beschreiben, was es war, das ihn in ihren Augen so unattraktiv machte.
In diesem Augenblick ertönte eines der Glöckchen an der Tafel. Jedes Zimmer war durch eine Schnur mit einem eigenen Glöckchen verbunden, so dass man genau sah, wo man nach ihnen rief. Es war, wie nicht anders zu erwarten, das Gemach der Sinhá Eulália, in dem nach einem Diener verlangt wurde. Lua stürzte schnell einen Schluck Milchkaffee hinunter, seufzte und machte sich auf den Weg.
Der Tag verlief wie die meisten auf der Fazenda. Sinhá
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