Das Lied des Kolibris
Luft. Ganz dunkel wurde es ebenfalls nie. Zwar war es den Sklaven untersagt, nach dem Läuten der Zehn-Uhr-Glocke noch Lampen brennen zu lassen, aber die eine oder andere Funzel brachte trotzdem noch ein wenig Licht, so dass die Leute wenigstens den Weg zum Abort fanden.
Lua lag in ihrer Hängematte und träumte mit offenen Augen vor sich hin. Eines war ihr klargeworden: Die Liebe auf den ersten Blick gab es! Sie hatte nie an sie geglaubt, doch jetzt hatte Zé sie eines Besseren belehrt. Nun endlich erfuhr sie, wie das Verliebtsein sich wirklich anfühlte. Das Turteln mit Joãozinho und das Poussieren mit Luís, das war nichts gewesen im Vergleich zu den Gefühlen, die sie allein beim Gedanken an Zé überrollten wie eine der riesigen Wogen des Meeres, an das ihre Fazenda grenzte. Sie sträubte sich dagegen. Ihr Verstand weigerte sich zu begreifen, dass man einen Wildfremden auf Anhieb lieben konnte. Das war doch ein Ding der Unmöglichkeit. Sie versuchte, diesen Gefühlen aus dem Weg zu gehen, so wie sie sich auch niemals freiwillig in die Nähe der tosenden See begeben hätte. Aber ihr Herz sagte etwas völlig anderes.
Und es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie der Stimme ihres Herzens lieber lauschte als der ihres Kopfes.
4
L ua erwachte später als üblich. Am Horizont leuchtete bereits die Sonne, demnach musste es schon nach fünf sein. Sie sputete sich, um in die Casa Grande zu kommen, bevor deren Bewohner aufwachten und augenblicklich nach den Sklaven verlangten. Die Sinhá Eulália war besonders anspruchsvoll. Sie wünschte jeden Morgen ein Bad zu nehmen, von Lua geschrubbt und trockengerubbelt zu werden, anschließend das Frühstück auf ihrem Zimmer serviert zu bekommen und sich dann von ihr ankleiden zu lassen. Letzteres war immer eine aufreibende Prozedur, litt ihre Herrin doch unter mangelnder Entschlusskraft. Lieber das roséfarbene Kleid oder eher den cremefarbenen Rock mit der hellblauen Bluse? Lieber einen Spitzenkragen oder doch ein Seidentuch?
Als Kind hatte Lua sie glühend um ihre herrliche Garderobe beneidet. Damals hatten sie manchmal die Kleidung getauscht, und in ihren Kleidern aus duftigen, farbenfrohen Stoffen hatte Lua sich immer gefühlt wie eine Prinzessin – während die Sinhá sich in den erdfarbenen Kittelchen der Dienerin aufführte, als sei sie es, die das große Los gezogen hatte. Oft hatte Lua geweint, weil den Sklaven schöne Kleider nicht zustanden. Die Tränen waren jedoch längst versiegt. Sie hatte sich mit den einfachen Baumwollkleidern abgefunden, die ihr zu tragen erlaubt waren, und erfreute sich an den abgelegten Accessoires, die ihr die Sinhazinha von Zeit zu Zeit schenkte: ein fadenscheiniger Schal hier, ein Paar alter Seidenstrümpfe dort. Der äußerst dürftige Umfang von Luas Garderobe hatte wenigstens den Vorteil, dass sie nicht allmorgendlich vor dem Kleiderschrank verzweifelte ob der Vielzahl an kostbaren Roben, so wie die Sinhá Eulália, die zuweilen mit tränenerstickter Stimme ausrief: »Ich habe überhaupt nichts zum Anziehen!«
Lua schlüpfte in ihr blaues Kleid, band sich eine frische weiße Schürze um und lief nach draußen an den großen Waschtrog, um Gesicht und Hände zu waschen. Sie fuhr mit ihren nassen Fingern durch ihr krauses Haar, um es straff nach hinten zu kämmen und aufzustecken. Dann setzte sie die weiße Haube auf und begab sich zum Herrenhaus. Sie wählte ihren Weg so, dass sie an dem großen Tisch vorbeikam, an dem die Feldsklaven ihr Frühstück, bestehend aus Tapioka-Fladen und stark gesüßtem Kaffee, zu sich nahmen. Normalerweise mied sie diesen Weg, da manche der Burschen anzügliche Bemerkungen machten und die anderen, auch die Frauen, dann stets laut lachten. Während einige der Haussklavinnen diese »Komplimente« genossen, schämte Lua sich jedes Mal halb zu Tode. Heute aber hoffte sie einen Blick auf Zé zu erhaschen.
Sie sah ihn genau zwischen dem derben José Careca und dem pockennarbigen Paulo, zweien der ordinärsten Kerle auf dieser Fazenda. Er starrte auf sein Essen und schien sich über irgendetwas den Kopf zu zerbrechen. Erst als die zwei Fieslinge mit ihren Pöbeleien begannen, blickte er auf. Sein Blick traf den ihren, und sie glaubte, den Anflug eines Lächelns über sein Gesicht huschen zu sehen. Vielleicht bildete sie es sich aber auch nur ein, denn sofort senkte Zé wieder den Blick und beschäftigte sich mit seinem kargen Mahl. Lua verspürte heftiges Herzklopfen. Die zotigen Witze der anderen
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