Das Lied des Kolibris
Eulália ließ Lua eine Reihe unnötiger Arbeiten verrichten, und der Senhor rief sie in sein Studierzimmer, damit sie ihm die Schuhe polierte, wobei er ihr auf die Brüste glotzte und ihr verschämte Komplimente machte – wirklich zudringlich wurde er nie. Sie schaffte es kurz in die Bibliothek und las einige wenige Seiten in einem uralten und sterbenslangweiligen Versepos namens »Prosopopéia«. Mittags gab es Bohnen und Aipim-Püree zu essen, sie stritt sich mit der dicken Maria über ein Glas, das diese fallen gelassen hatte und dafür ihr die Schuld in die Schuhe schob, und sie besserte die Kanten der feinen Taschentücher von Dona Ines aus, die sehr genau um Luas Geschicklichkeit im Sticken wusste. Ein Tag wie jeder andere – wäre da nicht der späte Nachmittag gewesen, an dem Fernanda und Lua sich davonstahlen, um die Rückkehr der Feldsklaven zu beobachten.
Lua war es gewesen, die den Vorschlag gemacht hatte. Fernanda hatte nur geraunt: »Also ist doch etwas dran an Marias Gerede?«, schloss sich ihr aber bereitwillig an.
»Nein, Maria übertreibt maßlos. Aber eines stimmt schon: Dieser Neue hat etwas an sich, das …«
Genauer vermochte sie es nicht zu beschreiben. Fernanda, die im Gegensatz zu ihr schon Erfahrungen in der Liebe gesammelt hatte, sah sie schräg an. »Bist du etwa verknallt? Pass bloß auf, dass er dir kein Kind macht.«
Lua schlug die Hand vor den Mund. Warum mussten immer alle gleich so vulgär werden? Durfte man nicht mal von einem Mann schwärmen, ohne gleich über die Gefahren belehrt zu werden, die die fleischliche Vereinigung mit sich brachte? Sie dachte ja nicht im Traum daran, sich Zé hinzugeben! Sie wollte ihn sich nur noch einmal anschauen, und insgeheim hoffte sie natürlich, dass auch er sich freuen würde, sie zu sehen.
Mit 18 Jahren noch Jungfrau zu sein war unter Sklavinnen eine echte Rarität. Die meisten wurden von ihren Herren oder deren Söhnen bestiegen, sobald die ersten Anzeichen von Fraulichkeit sichtbar wurden, also etwa mit zwölf oder 13. Bei der einen oder anderen war es auch der Padre gewesen, der ihnen gezeigt hatte, was sie mit den männlichen Sklaven tunlichst
nicht
tun sollten. Waren die Mädchen einmal entjungfert, hatten die wenigsten von ihnen größere Bedenken, sich unter den schwarzen Männern einen Geliebten zu suchen. In Luas Alter hatten viele junge Frauen schon mehrere Kinder, hellbraune wie dunkelbraune. Diese Kinder wuchsen als Eigentum ihrer Senhores heran, daher war es gar nicht wichtig, wer ihr leiblicher Vater war. Lua selbst war ebenfalls die Frucht einer solchen Vereinigung. Sie kannte ihren Vater nicht, aber ihre etwas hellere Hautfarbe ließ vermuten, dass es einer aus der Casa Grande sein musste. Womöglich Dom Felipe selbst, Herr bewahre! Luas Mutter war angeblich eine große Schönheit gewesen, aber Lua konnte sich nur auf das verlassen, was die älteren Sklaven ihr über sie erzählt hatten, denn sie starb, als Lua gerade vier Jahre alt war. Lua hatte keinerlei Erinnerung an das Aussehen ihrer Mutter, aber sie entsann sich noch genau ihres süßen, warmen Duftes.
Fernanda und Lua erreichten die Hofeinfahrt, über die die Feldsklaven in Kürze das Gelände des Gutshofs betreten würden. Sie versteckten sich hinter einem knorrigen Flamboyant-Baum, der jetzt, im Dezember, voller riesiger Schoten hing. Bald würde der Baum vor lauter roten Blüten förmlich glühen, aber noch wirkte er wie abgestorben, so wenig Grün befand sich an ihm. Von weitem sahen sie nun die ersten Gruppen der Feldsklaven: lange Schlangen von Leuten, Männern wie Frauen, die abgekämpft und verschmutzt den Marsch nach Hause bewältigten. Als sie näher kamen, erkannte man mehr Details. Die Arbeiter trugen keines ihrer Werkzeuge mehr, denn die Aufseher sammelten Macheten und Hacken wohlweislich nach getaner Arbeit ein. Sie trugen Kleidung, die in der Casa Grande nicht einmal als Putzlumpen verwendet worden wäre. Ihre nackten Beine und Füße waren rötlich gelb vom Staub der Felder, ihre Gesichter verhärmt. Dennoch zwang man sie, fröhliche Lieder anzustimmen. Es war ein trauriger Anblick, zugegeben, aber Lua kannte es nicht anders und sah die Notwendigkeit, diese Leute so zu behandeln. Hätte man sie verhätschelt, wäre kein einziges Feld abgeerntet worden, und sie alle hätten nichts mehr zu essen gehabt. So war das nun einmal.
Fernanda gab ein kaum hörbares »Da!« von sich. Lua folgte der Richtung ihres Blickes und suchte gespannt die erste
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