Das Lied des Kolibris
zusätzlichen Aufseher ein, damit wir nicht alle stiften gingen. Dabei bestand diese Gefahr gar nicht. Die meisten verbleibenden Sklaven waren schon älter oder hatten irgendeine Art von Behinderung, so dass sie an eine Flucht überhaupt nicht dachten. Die humpelnde Köchin, die bucklige Waschfrau, der einarmige Stallknecht – es waren fast nur noch Schwarze hier, die unverkäuflich gewesen waren. Ich selber hätte meiner Meinung nach noch ein hübsches Sümmchen eingebracht, denn ich war gesund und vital. Ich glaube, es war reine Boshaftigkeit, dass sie mich behalten hatten, anstatt meinem Wunsch nachzukommen, meinem Mann folgen zu dürfen.
Der neue Aufseher entpuppte sich als Trunkenbold. Kaum waren unsere Senhores abgereist, besoff er sich und lag stundenlang im Schatten eines riesigen Tamarineiro-Baums, um seinen Rausch auszuschlafen. Ich fackelte nicht lange. Ich schnürte mein Bündel, versorgte mich mit reichlich Proviant und ein paar nützlichen Werkzeugen, dann legte ich mich schlafen, um Kräfte für den kommenden Tag zu sammeln. Sobald der Kerl sich wieder betrunken haben würde, wollte ich aufbrechen.
Und das tat ich. Außer einer etwas zurückgebliebenen Magd bemerkte niemand, dass ich einfach so im helllichten Nachmittagslicht davonstapfte, und hätte es jemand bemerkt, so hätte er mich sicher nicht verpfiffen. Der Aufseher selbst würde erst bei seiner abendlichen Zählung feststellen, dass jemand fehlte, und auch dann war ich mir sicher, dass irgendjemand schon genügend Geistesgegenwart besäße, ihm eine Lüge aufzutischen.
Es war so einfach, dass ich mich selbst dafür verachtete, es nicht schon früher gewagt zu haben. Ich war in guter Form, und das Land, das anders als meine Heimat tropisch dichte Vegetation aufwies, war freundlich zu Wanderern. Es gab Schlangen, Krokodile und Pumas, das schon, aber die scheuten den Menschen mehr als er sie. Es gab überall genügend Wasser, es wuchsen reichlich Früchte an den Bäumen, und es war ein Kinderspiel, zu Fuß eine größere Strecke zurückzulegen. Ich hatte meine alten Instinkte nicht eingebüßt. Es dauerte zwar mehrere Tage, bis ich sie in ihrer alten Kraft wiedererlangt hatte, aber sie waren noch da. Mein Gehör war scharf, mein Geruchssinn ausgeprägt, meine Sicht auch im Dunkeln noch sehr gut. Ich wanderte und wanderte, bis ich endlich die besiedelten Gebiete des Küstenstreifens hinter mir ließ. Irgendwann wurde der Wald lichter, das Gelände bergiger und das Klima trockener. Ich wusste, dass die Minen nicht mehr weit entfernt sein konnten.
Als ich sie erreichte, wunderte sich niemand über mein Erscheinen oder über mein Aussehen. Die Verzweiflung der Männer war dergestalt, dass ihnen alles gleichgültig war. Eine abgerissene Person mehr, wen scherte das schon? Es gab auch einige Huren, furchterregende, abgewrackte Gestalten, die unter diesen armen Verdammten ihre verbleibenden Reize meistbietend verhökerten. Für mehr als eine warme Suppe reichte auch ihr Tageslohn nicht. Niemand fragte mich nach meiner Identität oder meiner Herkunft, und nur ein paar der alten Huren pöbelten mich an, weil sie eine Konkurrentin in mir vermuteten. Nachdem ich das Missverständnis aufgeklärt hatte, waren die meisten von ihnen aber hilfsbereit.
»Vor ein paar Wochen ist ein ganzer Zug aus Süden angekommen. Die meisten der Männer haben sie, glaube ich, in die Minen des Schinders gesteckt. Aquamarine, hauptsächlich.«
Es war mir völlig egal, welche Steine sie dort abbauten, was mich dagegen brennend interessierte, war, warum der Besitzer »der Schinder« genannt wurde. Es ließ sich natürlich unschwer erraten.
»Da überlebt keiner länger als ein Jahr. Wenn du deinen Mann noch lebend wiedersehen willst, dann beeilst du dich besser.«
Und das tat ich. Ich wanderte weiter und fragte mich zu dem Areal des Schinders durch, der ein reicher und berühmter Mann zu sein schien, denn jeder kannte ihn. Als ich nach mehreren Tagen endlich dort ankam, war ich am Ende meiner Kräfte. In dieser unwirtlichen Landschaft gab es wenig, wovon ich mich ernähren konnte, und Geld besaß ich keines. Ich hatte einzig die Schmuckstücke, die noch aus meiner Zeit als Favoritin des Senhors stammten, aber ich würde niemals das wertvolle goldene Herz für einen Teller voller Bohnen opfern. Das aber hätte ich als Gegenleistung dafür erhalten, denn hier draußen waren Gold und Edelsteine kaum mehr wert, als es Muscheln an der Küste waren.
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