Das Lied des Kolibris
ziehen lassen mussten, wussten, dass sie ihn nie wiedersehen würden.
Die Edelsteinminen im Hinterland Bahias waren als »Menschenfresser« berüchtigt. Wer einmal dort landete, kehrte nie mehr zurück. Die Arbeit war hart, tödliche Unfälle waren an der Tagesordnung, und die rauhen Sitten der Kerle taten ihr Übriges. Wer die Arbeit überlebte, der wurde vielleicht im Schlaf wegen ein paar Smaragdsplittern gemeuchelt. Es wurden nur sehr junge Burschen, halbe Kinder noch, sowie reifere Männer dorthin geschickt, denn die kräftigen jungen Männer zwischen zwanzig und dreißig wurden anderweitig mehr gebraucht. Sie hatten außerdem einen zu hohen Kaufpreis, als dass sich ihre Anschaffung für die Minenarbeit gelohnt hätte: Sie starben ja eh nach wenigen Jahren.
Dass meinen Muhongo nun das schlimmste aller Sklavenschicksale ereilen sollte, brachte mich schier um den Verstand. Während meine »brasilianischen« Kinder irgendwie ihren Weg machen würden – und dass sie sich schon durchschlagen würden, davon war ich im Grunde meines Herzens überzeugt –, war Muhongo ohne mich allein auf der Welt. Es waren ihm ein paar schöne Jahre vergönnt gewesen, mit mir und Uanhenga, aber dass man ihn nun zum Sterben in die Minen schickte, fern der Heimat und der Familie, das fand ich allzu schäbig. Ich wollte bei ihm sein, wenn es ihn dahinraffte, wollte ihm afrikanische Beschwörungen mit auf den Weg zu den Ahnen geben und mich darum kümmern, dass er, wenn es eines Tages so weit war, nicht wie ein Hund verscharrt wurde.
Ich beschloss zu fliehen.
Was ich in über 20 Jahren nicht gewagt hatte, weil es mir wegen meiner Kinder zu gefährlich erschienen war, das kam mir plötzlich so folgerichtig und einfach vor. Ich würde gehen. Allein und zu Fuß würde ich mich auf den Weg zu den Minen machen. Wenn es die Männer in Ketten schafften, dann würde es mir ohne eine derartige Behinderung ja allemal gelingen. Unsere verwaiste Fazenda hatte keinen richtigen Aufseher mehr, die Wachhunde waren alt und müde, genau wie die Herrschaften, und wir verbleibenden Sklaven waren so wenig wert, dass eine Ausreißerin nicht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gejagt werden würde. Ich war mir vollkommen sicher, dass mir die Flucht gelänge.
Um weder meine Pläne noch meinen armen Mann zu gefährden, erzählte ich Muhongo kein Wort. Ich verabschiedete ihn fast so förmlich, wie ich es zuvor bei unserem Sohn getan hatte.
Er selber war ähnlich steif und starrte auf die staubige Erde, als er auf Portugiesisch zu mir sagte: »Imaculada tapfer Frau. Denken an Betinho und Dodo, nicht an alte Mann.«
Er benutzte unsere Gefangenennamen sowie die Sprache der Verbrecher, weil der Senhor in der Nähe stand. Aber ich begriff: Muhongo wollte mir zu verstehen geben, dass ich mich nicht um ihn, sondern lieber um die Kinder sorgen solle. Er ahnte wohl, was ich im Schilde führte.
Ein kleines Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, als ich ihm, ebenfalls in gebrochenem Portugiesisch, antwortete: »Lula brav Mann. Immer gehorchen Sinhô, fleißig arbeiten.«
Er nickte. Ich hoffte, dass auch er verstanden hatte. Ich wollte, dass er weder floh noch sonst etwas tat, was sein Leben gefährdete. Ich wollte ihn wiedersehen, wo und wann auch immer.
Und dann setzte sich der Zug der angeketteten Männer in Bewegung. Erst als er in weiter Ferne war, erlaubte ich mir, zu weinen.
Es vergingen rund drei Wochen, in denen ich vor lauter Arbeit kaum dazu kam, weiter an meinem Fluchtplan zu feilen. Da wir nun nur noch so wenige Sklaven waren, musste jeder einzelne die Arbeit von dreien übernehmen. Ich machte Feldarbeit, wusch Wäsche, röstete Mehl, fütterte das Vieh, fegte den Hof und erledigte alles, was außerhalb der Casa Grande anfiel. Denn im Herrenhaus war ich nach wie vor nicht erwünscht. Nachdem ich zwei Drittel meines Lebens in Brasilien verbracht hatte, war ich in den Augen der Herrschaft wie auch in denen der anderen Sklaven noch immer die Afrikanerin, die Wilde, die Hottentottin. Und eine solche Kreatur, mehr Tier als Mensch, duldeten die Weißen nicht in ihrem Heim.
Und dann ergab sich plötzlich die Gelegenheit, die ich so sehr herbeigewünscht hatte, auf die ich aber nun gar nicht vorbereitet war. Der Senhor und die Senhora traten eine Reise in die Hauptstadt Rio de Janeiro an. Sie wären für mindestens vier Wochen fort, denn allein die Schiffsreise dorthin dauerte eine Woche. Sie stellten für die Dauer ihrer Abwesenheit einen
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