Das Lied des Kolibris
Reihe fadenscheiniger Ausreden, doch sie alle entfielen ihr, als sie in der Küche ankam und vor Tia Jacobina stand: »Schnell, Zé hat überlebt, und er braucht jetzt Wundverbände. Dafür benötigen wir Honig und Schnaps.«
So streng die Alte sonst sein mochte, diesmal stellte sie keine Fragen und handelte rasch. Sie gab Lua drei Gläser Honig und eine ganze Flasche Cachaça, hochprozentigen Zuckerrohrschnaps, und scheuchte sie, als sie sich bedanken wollte, hinaus. Als Lua den Hof überquerte, hörte sie die quengelnde Stimme der Sinhazinha: »Lua, du faules Stück, ich brauche dich hier oben!« Lua sah zu ihrem Fenster hinauf, deutete einen Knicks an und rief: »Ja, sofort, ich muss nur … mir ist ein wenig unwohl.« Dann rannte sie weiter. Eine gar nicht damenhafte Schimpftirade verfolgte sie, doch in diesem Augenblick war es Lua egal, ob sie für ihren Ungehorsam ausgepeitscht werden würde oder nicht. Im Grunde glaubte sie sowieso nicht an eine strenge Strafe, denn etwas Schlimmeres als eine Ohrfeige hatte sie sich kaum je eingefangen.
In der Senzala herrschte eine gespannte Unruhe. Viele Leute, die sonst ihren freien Tag nutzten, um draußen im Schatten der Bäume zu sitzen und Domino zu spielen oder zu tratschen, hockten nun hier drinnen und bangten um das Leben von Zé. Viele boten ihre Hilfe an, und manch einen schickten Imaculada oder Lua im Laufe des Tages los, um frisches Wasser zu holen oder die blutgetränkten Lappen auszuwaschen, mit denen sie Zé gereinigt hatten.
Der Verletzte selbst war ohnmächtig, was für ihn wohl ein Segen war. Denn Imaculada behandelte seine Wunden mit einem Schwämmchen, auf das sie immer wieder Schnaps gab, eine wahrscheinlich äußerst schmerzhafte Prozedur, wenn man bei Bewusstsein war. Anschließend vermischte sie den Honig mit einem Sammelsurium an getrockneten Kräutern, strich diese Masse auf die Wunden und umwickelte sie dann mit Leinentüchern. Dabei brabbelte sie unentwegt vor sich hin, ein unverständliches Kauderwelsch in ihrer Muttersprache, bei dem Lua sich am liebsten bekreuzigt hätte. Christliche Gebete würden ihrer Meinung nach mehr bewirken als afrikanische Hexensprüche. Andererseits sprach Imaculadas hohes Alter für ihre Behandlungsmethoden: Wer so alt wurde, und das trotz unvorstellbarer Qualen und Misshandlungen, der würde wohl wissen, was heilsam war und was nicht. Auch als Imaculada ein Amulett zwischen ihren faltigen Brüsten hervorzog und es über Zé hielt, um dabei heidnische Beschwörungsformeln aufzusagen, wagte Lua nicht, etwas dagegen zu unternehmen.
»Mbómbo schlafen. Mbómbo heiß werden«, ließ Imaculada die anderen wissen und erklärte ihnen weiter in ihrem grauenhaften Portugiesisch, dass sie ihn immer schön kühl halten sollten, damit das Fieber nicht stieg. Dann verließ sie die Krankenstatt.
Im März war es in Bahia besonders heiß und feucht. In geschlossenen und schlecht ventilierten Räumen konnte die Temperatur da gerne mal auf über 40 Grad ansteigen. Wie in Dreiteufelsnamen sollten sie den Kranken kühl halten? Das Einzige, was ihnen einfiel, war, ihm permanent Luft zuzufächeln. Sie teilten die Aufgabe untereinander auf, so dass nicht nur Gabriela, Maria Segunda und Lua, sondern noch 20 weitere Sklaven die monotone Arbeit verrichteten. Rund um die Uhr saß jemand bei Zé und schwang ein Palmblatt, bis ihm die Arme lahm wurden und er abgelöst wurde. Lua übernahm meist die frühen Morgenstunden, damit nicht durch ihre ständige Abwesenheit im Herrenhaus jemand darauf aufmerksam wurde, was sich in der Senzala tat.
Bisher nämlich hatten die Senhores nichts von Zés Überleben erfahren. Das war noch nie da gewesen. Unter rund 200 Personen gab es immer mindestens eine, die Verrat übte, sei es zum eigenen Vorteil, sei es aus Rache oder Eifersucht. Nun aber ließ keiner der Sklaven eine Silbe über die Vorgänge in der Senzala fallen, weder der Hausdiener João, der sonst nie sein Maul halten konnte, noch Lulu, von dem Lua wusste, dass er vor Eifersucht auf Zé fast platzte. Die Männer, die Zé hätten begraben sollen, hielten ebenso dicht wie die dicke Maria oder die Köchin, die bereitwillig alles herausrückte, was Imaculada an »Medizin« benötigte. Drei Tage lang hüteten sie das Geheimnis, ein wahres Kunststück, das sie alle mit Stolz erfüllte. Es stärkte den Zusammenhalt unter den Sklaven ungemein, und irgendwie entwickelten alle großen Ehrgeiz, um nur ja nichts von dem geheimen Wissen in die Casa Grande
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