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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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15 Jahre lang voll einsatzfähig war, konnte man sich leicht den Profit des Senhors ausrechnen. Und der verdiente nicht einmal am meisten mit dem »weißen Gold« – viel gewinnträchtiger war das Geschäft, ausgetragen auf den von Peitschenhieben vernarbten Rücken der Schwarzen, für die Großhändler und die Importeure in Portugal, denn die kostbare Ware erzielte in Europa Höchstpreise und war in den feinen Salons der Begüterten heiß begehrt.
    Doch so viel wusste Zé als junger Mann noch gar nicht. Die Welt der Kaffeehäuser und Salons hätte er sich nicht einmal ansatzweise auszumalen vermocht, und die große Entfernung zwischen der Kolonie und dem Mutterland konnte er sich allein deshalb vorstellen, weil seine Mutter ihm die Dauer ihrer Verfrachtung per Schiff anschaulich geschildert hatte. Für die meisten Sklaven hätte Portugal auch auf dem Mond liegen können, so weit fort schien es und so fernab ihrer Realität. Was Zé indes wusste, war, dass der Zucker in jedem einzelnen Behälter aus Jequitibá-Holz, das nach Europa verschifft wurde, seinem Senhor mehr wert war als das Leben eines Sklaven. Die Quälerei würde nie ein Ende nehmen, solange ein Sklave, der vor Erschöpfung tot umfiel, bei seinem Herrn kaum mehr als ein Achselzucken auslöste. Jedenfalls dann, wenn er sich schon bezahlt gemacht hatte.
    Mbómbo schrak plötzlich aus seinen bitteren Überlegungen hoch. Was war das für ein Geräusch gewesen? Bekam er Besuch von einem der Indiomädchen, die ihm manchmal etwas zu essen vorbeibrachten? Hatte sich ein Tier in seine Einsiedelei verirrt? Oder war endlich der Fall eingetreten, den er so lange herbeigesehnt hatte, dass nämlich andere entlaufene Sklaven hier Zuflucht suchten? Er schnappte sich Bogen und Köcher, versteckte sich hinter einem moosigen Baumstamm, der über und über mit
bromélias
bewachsen war, und hielt die Luft an.
    Als er weitere Äste knacken und Gestrüpp rascheln hörte, verdichtete sich die Ahnung, dass es weder ein Indio noch ein Tier sein konnte, zur Gewissheit. Allerdings bestand auch noch die Möglichkeit, dass ihn gewiefte Sklavenjäger gefunden hatten.
    Er spannte für alle Fälle den ersten Pfeil an und starrte in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.
    Sie kamen aus Osten.
    Und dann sah er die Gestalten nahen.

22
    W ie dumm sie gewesen war! Wie hatte sie nur jemals glauben können, dass sie, die verweichlichte Haussklavin, sich in freier Natur behaupten würde? Lua ekelte sich vor Spinnen und Schlangen, sie ging nicht gern barfuß durch sumpfiges oder schlammiges Gelände, und der erbarmungslosen Mittagssonne hatte sie sich auch schon seit Kindertagen nicht mehr länger als einige Minuten ausgesetzt.
    Und doch hatte sie, einem idiotischen Impuls folgend, einfach die Beine in die Hand genommen und war gerannt. Sie war die breite, palmengesäumte Auffahrt hinuntergelaufen, war dem Weg Richtung Salvador gefolgt, weil dieser ihr am einfachsten zu bewältigen erschienen war, und so lange weitergehetzt, bis ihr die Puste ausging und ihr der Schweiß in Strömen herunterlief. Erst da hatte sie kurz angehalten, um sich nach Verfolgern umzudrehen. Weit und breit war kein Mensch zu sehen gewesen. Es hatte sie nicht besonders gewundert. Selbst wenn ihre Abwesenheit auffiel, würde sich anfangs keiner viel dabei denken. »Wo steckt nur dieses unnütze Negermädchen wieder?«, würde die Sinhazinha vielleicht denken oder ungehalten vor sich hin murmeln: »Nie sind sie da, wenn man sie braucht!« Es mochten Stunden vergehen, bevor man sie suchte.
    Mit ein wenig Glück aber konnte Lua in ein paar Stunden die Stadt erreicht haben. Dort, so hatte sie sich überlegt, dürfte es einfach für sie sein, in der Menge der Schwarzen und Mulatten unterzutauchen, einfacher auf alle Fälle, als im Dschungel zu überleben. Womit sie nicht gerechnet hatte, waren die nach der Regenzeit aufgeweichten Wege sowie die üppige Vegetation. Alle paar Schritte ragte ein vorwitzig sprießender Zweig auf den Weg, dem sie ausweichen musste, und viele Bäume hatten so dichte, breite Kronen, dass sie über der Straße ein Dach bildeten. Über dieses wäre Lua im Grunde froh gewesen, spendete es doch Schatten. Aber der Gedanke, welches Getier sich im Blattwerk herumtreiben mochte und sich hinterhältig auf sie stürzen konnte, trieb ihr Angstschauer über die Haut. Also rannte sie noch schneller. Sie keuchte und litt unter heftigen Seitenstichen, doch sie wagte es nicht, innezuhalten und sich eine

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