Das Lied des Kolibris
an ein Wunder, dass er ihn überhaupt kannte. Wenn über Generationen hinweg Mütter und Väter von ihren Kindern getrennt wurden, wenn die Kinder an weit entfernte Fazendas verkauft wurden, bevor sie sprechen konnten, dann gab es keinerlei Möglichkeit, die Tradition der mündlichen Überlieferung aufrechtzuerhalten. Die wenigsten Sklaven kannten ihre Abstammung, und genauso war es ja auch von den Weißen gewünscht. Mbómbos Fall war einer der ganz wenigen, in dem sich tatsächlich die mütterliche Linie bis zu den Urahnen zurückverfolgen ließ, obwohl Mbómbo selbst nicht ganz sicher war, ob er sich auch an alles korrekt erinnerte.
Seine Mutter, von der er erst im Alter von acht Jahren getrennt worden war, war noch eine echte Afrikanerin gewesen. Sie hatte ihm die Geschichten seiner Ahnen erzählt, immer und immer wieder, damit er niemals vergessen möge, wer er war und woher er stammte. Eine echte Prinzessin war sie gewesen, erste Tochter der Erstgeborenen des Stammesfürsten Shungu, der über ein Gebiet herrschte, das sich vom Kivu-See und dessen todbringenden Geistern bis zu den majestätischen Gipfeln des Ruwenzori-Gebirges erstreckte. Dieser fürstliche Großvater, Mbómbos Urgroßvater, hatte seiner Enkelin gern von den vielen Reisen erzählt, die sein eigener Großvater als jüngerer Mann unternommen hatte. Er hatte von den sagenhaften Reichtümern Malis berichtet und der Bibliothek in dessen Hauptstadt Timbuktu, die mittlerweile von den marokkanischen Eroberern zerstört worden war. Er hatte von den Pyramiden im äußersten Norden geschwärmt und von den Savannen im Herzen des Kontinents, von den Karawanen in der endlosen Sahara wie von den atemberaubenden Tierherden in den fruchtbaren Tälern des Südens, von den stolzen Tuareg und den zähen Buschmännern. Kurz, er hatte dem kleinen Shungu immer eingeschärft, dass Afrika der Nabel der Welt war, die Wiege der Menschheit und der Kultur – so wie dieser es viele Jahre später mit seiner Enkelin und diese wiederum mit ihrem kleinen Mbómbo tat.
Als dieser das Alter erreicht hatte, in dem Kinder für gewöhnlich arbeiteten, wurde seine Mutter verkauft. Er sah sie nie wieder. Er wurde auf die Felder geschickt, um den Vorarbeitern Wind zuzufächeln oder den Arbeitern Wasser zu reichen, und niemand interessierte sich für seine traurige Geschichte. Ihnen allen war Ähnliches widerfahren. Und so gewöhnte sich Mbómbo daran, dass er Zé hieß, dass er nur ein dreckiger Feldneger war und als Kind noch weniger Rechte besaß als die erwachsenen Sklaven. Das Wissen um seine Herkunft und die Größe Afrikas verschloss er im hintersten Winkel seines Gedächtnisses – aus dem es mit Gewalt hervorbrach, als er etwa vierzehn Jahre alt war.
In der Heimat seiner Mutter hätte er in diesem Alter verschiedene Prüfungen absolvieren müssen, um aus diesen als Mann hervorzugehen. In Brasilien wurde er als Arbeitstier eingesetzt, dem aufgrund seiner Jugend mehr abverlangt wurde als den älteren Leuten. Bis zu zwanzig Stunden am Tag musste während der Erntezeit die Zuckerrohrpresse am Laufen gehalten werden, rund zehn Stunden davon von Zé und einem anderen kräftigen Sklavenburschen. Es war die monotonste Arbeit der Welt, von morgens bis abends im Kreis zu gehen. Andernorts gab es Mühlen, die von Wasserkraft betrieben wurden, doch auf Zés Fazenda, die weder an einem Fluss noch direkt am Meer gelegen war, mussten Sklaven diese menschenunwürdige Arbeit ausführen.
Später war Zé als Schnitter auf den Feldern eingesetzt worden. Diese Arbeit war nicht minder hart, hieß es doch, den ganzen Tag gebückt in schlammigen Feldern zu stehen, den Rücken der gnadenlosen Sonne zugewandt, und mit der Machete die Rohre möglichst nah am Boden abzuschneiden. Einzig ein paar kurze Trinkpausen wurden den Männern zugestanden sowie die Zeit, die sie brauchten, um ihre Macheten zu schärfen. Wenn der Aufseher einmal nicht genau hinsah, gelang es den Arbeitern auch manchmal, das Rohr mit den Händen zu pressen und den süßen Saft direkt in ihren Mund laufen zu lassen. Natürlich war dies streng verboten, reduzierte es doch den Ernteertrag des Senhors, wenn auch nur um wenige Centavos.
Als Zé erstmals erfuhr, wie viel sein damaliger Besitzer an einer
arroba
Rohzucker verdiente, wuchs sich sein schwelender Unmut zu offenem Rebellentum aus. Allein er, Zé, erwirtschaftete seinen eigenen Marktwert innerhalb von nur anderthalb Jahren! Da ein Feldarbeiter bei »guter Pflege« bis zu
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