Das Lied des Kolibris
Atempause zu gönnen.
Nur wenn jemand ihren Weg kreuzte, schlug sie sich ins Unterholz, wo erneut ihre Angst vor Tieren stärker war als die vor Verfolgern. Wer wusste schon, was alles auf dem weichen Boden herumkreuchte, was sie in ihre nackten Fußsohlen zwicken, beißen oder stechen konnte? Und wie viele Insekten hier ihr Unwesen trieben? Lua hatte von einer Mücke gehört, die mit ihrem Stich einen Wurm übertrug, der wiederum durch den ganzen menschlichen Körper hinaufkroch und dann an den Augen wieder hervortrat. Die Vorstellung, eine solche Kreatur könne sich sie als Wirt aussuchen, trieb ihr Tränen des Ekels in die Augen. Hätte sie eine Ahnung von der Schlechtigkeit der Menschen gehabt, die sie in ihrem gesamten Ausmaß nicht einmal ermessen konnte, wären ihre Tränen wohl in Strömen geflossen. Doch ihr bislang behütetes und friedliches Leben hatte ihr nie oder nur selten Anlass gegeben, an das Böse im Menschen zu glauben. Bis vor kurzem.
Lua wanderte weiter. Als die Sonnenstrahlen so tief standen, dass sie sie blendeten, machte sie in der Ferne die Silhouetten der Kirchen aus, an denen Salvador so reich war. Ihr Herz machte einen Satz, sowohl vor freudiger Erregung als auch vor klammer Beunruhigung. Würde ihre Flucht gelingen? Würde sie es schaffen, unbehelligt in die Stadt zu kommen und dem drohenden Schicksal, Lulu heiraten zu müssen, zu entfliehen?
Erst jetzt begann sie, sich darüber Gedanken zu machen, wohin sie gehen, wo sie die Nacht verbringen sollte. Sie kannte keine Menschenseele hier, hatte kein Geld und war vollkommen unerfahren. Sie kannte die Gepflogenheiten der Städter nicht, und das Labyrinth der Straßen war ihr ebenfalls nicht ganz geheuer. Wie hatte sie nur so kopflos davonlaufen können? War sie von allen guten Geistern verlassen?
Ihr kamen nun immer mehr Bedenken, ob ihre überstürzte Flucht wirklich klug gewesen war. Menschen aller Hautfarben begegneten ihr, und Lua hatte das Gefühl, als würden sie alle ihr misstrauische Blicke zuwerfen. War sie anders gekleidet als die Städter? Sah sie anders aus? Roch sie nach Land und Provinz? Benahm sie sich anders? Sie blickte an sich herab, konnte jedoch trotz ihres leicht derangierten Zustandes keinen großen Unterschied zwischen sich und den Frauen, die sie traf, erkennen. Eines allerdings gab es, was sie verraten mochte: Sie ging barfuß. Freie Schwarze durften Schuhe tragen, Sklaven nicht. Aber war das verräterisch genug, um sie als Flüchtige zu entlarven? Sie konnte doch eine Sklavin sein, die von ihrer Herrschaft auf einen Botengang geschickt worden war, oder nicht? Viele Sklaven, insbesondere in der Stadt, genossen solche Freiheiten, wenn sie sich als zuverlässig und treu erwiesen hatten.
Die Sonne ging gerade unter, als Lua die engen, gepflasterten Gassen der Innenstadt erreichte. Sie war müde, und die Hügel, auf denen die Stadt erbaut worden war, machten ihr zu schaffen. Manche Gassen waren so steil, dass Lua immer wieder anhalten musste, um Atem zu schöpfen und sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.
»He, so ganz allein heut Abend?«, sprach sie plötzlich ein schmieriger Kerl an, ein Mulatte, der von der Kleidung her ein wohlhabender Handwerker sein mochte. Lua starrte auf den Boden und ging zügig weiter. »Eine vornehme Haussklavin bist du, was?«, rief der Mann ihr nach. »Bist dir wohl zu fein für einen hart arbeitenden Mann wie mich.«
Den Rest hörte Lua nicht mehr. Sie hatte die nächstbeste Schankwirtschaft betreten, womit sie sich allerdings keinen Gefallen getan hatte. An einem großen Tisch, der vor alten Flecken nur so strotzte, saßen, hingen und lagen Männer in verschiedenen Stadien der Trunkenheit. Es roch intensiv nach Schnaps und Urin. Manche der Männer blickten gelangweilt auf, andere gaben zotige Bemerkungen von sich, über die sie in vulgäres Gelächter ausbrachen. Eine dunkelhäutige Magd fuhr Lua scharf an: »Verschwinde. Das ist nicht dein Revier!«
O Gott! War sie in einem Hurenhaus gelandet? Lua hatte nur im Flüsterton von diesen Etablissements reden hören und sich nie etwas Genaues darunter vorstellen können. Sie straffte die Schultern und verließ das zwielichtige Lokal schnell wieder. Draußen hatte mittlerweile der Himmel eine tiefviolette Tönung angenommen. Sie atmete auf. Puh, das war ja gerade noch einmal gutgegangen! Lange währte ihre Erleichterung allerdings nicht. Eine Gruppe junger Burschen schlenderte durch die Gasse. Sie hatten ein provozierend lässiges
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