Das Lied des Kolibris
und dich nach ein paar Jahren freikaufen kannst. Oder wir fahren nach São Fidélio, wo man ein hübsches Sümmchen auf deine Ergreifung ausgesetzt hat. Mir persönlich ist es gleichgültig.«
Lua glaubte, vor Entsetzen zur Salzsäule zu erstarren. Eine Reihe von Fragen spukte in ihrem Kopf herum. Wie hatte der Mann so schnell herausfinden können, wer sie war? Warum hatte sie, als es wirklich darauf angekommen war, so kläglich versagt? Und vor allem: Was sollte sie nun tun? Nach São Fidélio zurückzukehren war ausgeschlossen. Aber noch unerträglicher war die Vorstellung, sich in einem Bordell verdingen zu müssen. Sie verspürte den beinahe unbezwingbaren Drang, sich vor dem Mann auf den Boden zu werfen und ihn um Gnade anzuwinseln. Aber ein Rest an Stolz und Würde war ihr noch geblieben, so dass sie es mit dem Weiterführen ihrer Scharade versuchte.
»Ihr täuscht Euch, Sinhô. Ich bin nicht die, für die Ihr mich haltet. Ich muss den Arzt nach Santa Clara rufen, und wenn Ihr die Fazenda kennt, könnt Ihr vielleicht ermessen, was mir droht, wenn ich über Nacht fortbleibe.«
»Also das Freudenhaus«, sagte Paulo unbeeindruckt. »Siehst ja ganz passabel aus. Wenn du erst mal die Schürze und die Haube los bist …« Er griff nach Luas Haube, um diese abzunehmen und ihr Haar zu begutachten.
Instinktiv schlug Lua seine Hand fort. »Was fällt Euch ein?!« Sie drehte sich herum und wollte weglaufen, aber der stämmige Kerl war wendiger, als er aussah. Blitzschnell hielt er Luas Handgelenk mit eisernem Griff umklammert. Sein Ton war merklich barscher, als er weitersprach. »Ungehorsam kann ich auf den Tod nicht ausstehen. Du tust jetzt, was ich dir sage, denn sonst wird es dir schlecht ergehen.«
Damit schleppte er sie durch die Straße, immer tiefer hinein in das unheimliche Labyrinth schlecht beleuchteter Gassen, vorbei an zwielichtigen Schenken, aus denen üble Dünste drangen, vorbei an dunklen Hauseingängen, in denen sich umschlungene Paare herumdrückten, und vorbei an Bergen von Unrat, die sich in der Gosse türmten.
Als sie ihr Ziel erreichten, war Lua fast erleichtert, dass sie nun nicht länger von dem Grobian weitergezerrt wurde und nicht mehr den lüsternen Blicken widerlicher Trunkenbolde ausgesetzt war. Sie betraten das Freudenhaus durch den Hintereingang. Lua wurde zunächst in die Küche geführt, wo Paulo sie einer hübschen, hellhäutigen Mulattin übergab. »Habe Frischfleisch beschafft. Gib ihr was zu essen und zu trinken, das Mädel ist erschöpft. Dann zeig ihr, wo der Abort ist und wo sie sich waschen kann, und dann sperr sie irgendwo ein, wo sie sich erst mal ausruhen soll. Danach sehen wir weiter.«
Damit verließ Paulo die Küche.
Lua sackte heulend auf einem Schemel zusammen und ließ ihrem nicht enden wollenden Tränenfluss freien Lauf. Die Arme auf dem Küchentisch verschränkt und ihren Kopf darin bergend, schlief sie schließlich ein.
23
S ie waren zu dritt, zwei Männer und eine Frau. Erst auf den zweiten Blick erkannte Mbómbo sie: Es waren Sklaven von Três Marias. Er hatte früher keine enge Beziehung zu ihnen unterhalten, aber nun, nach Wochen der Einsamkeit, kamen sie ihm vor wie die besten Freunde, die er je gehabt hatte. Und ihnen erging es kaum anders: Sie wirkten abgezehrt, aber überglücklich, es hierher geschafft zu haben.
»Zé! Wir hatten kaum noch zu hoffen gewagt, dass wir dich je finden würden!«, rief einer von ihnen, der, wie Mbómbo sich jetzt erinnerte, Luizinho genannt wurde.
»Oh Gott!«, keuchte die Frau, eine gewisse Maria Luisa, genannt Marilu. »Keinen Schritt weiter wäre ich gekommen. Sieh dir nur diese Füße an!« Sie führte ihre entzündeten Blasen vor wie Trophäen.
»Gibt’s hier was Essbares?«, wollte der Dritte, er hieß João, wissen. »Wir sind drei Wochen unterwegs gewesen, und es gab nichts außer Fisch und Faultier zu essen.«
Mbómbo begrüßte die Gruppe freudig, hieß sie um seine Feuerstelle herum Platz nehmen und bereitete ihnen einen Tee aus der Rinde des Catuaba-Baums zu, den er mit wildem Honig süßte. Das Gebräu hatte eine belebende Wirkung, und es würde die Neuankömmlinge vorübergehend von ihrem Hunger ablenken. Mbómbo glaubte nicht, dass sein kleiner Vorrat an getrocknetem Tatu-Fleisch für sie alle reichte, und auch an Früchten hatte er nichts gelagert. Sie würden alle später noch einmal losziehen müssen, um etwas zu erlegen oder zu sammeln.
»Wie ist es euch ergangen? Wie ist euch die Flucht
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