Das Lied des Kolibris
Nachfahre eines Affen betrachtet.«
»Nennst du mich Affe? Ja?« Der drohende Unterton war unüberhörbar. »Ja? Ist es so? Na warte, ich werde dir zeigen, wer hier der Affe ist.« João holte zum Schlag aus. Doch als seine Rechte da landete, wo eigentlich Zés Kinn hätte sein sollen, traf er nichts als Luft. Verdutzt sah er sich um – und spürte kaum Zés linken Fuß auf seiner Schulter, als er schon zu Boden fiel.
Außer sich vor Wut richtete er sich auf und schnappte mit beiden Händen nach Zés Gurgel. Doch sein Widersacher hatte sich ihm erneut durch eine schnelle Drehung entzogen und landete nun mit einem gezielten Tritt einen Treffer in Joãos Bauch. João krümmte sich und ging ächzend in die Knie. Sein Gesicht war vor Schmerz und Wut so verzerrt, dass es kaum noch als ein menschliches Antlitz zu erkennen war.
»Hört auf!«, schrie Marilu. »Hört um Himmels willen auf! Wir sind bis jetzt nur vier. Wenn wir es schon nicht schaffen, uns zu einigen, wie sollen wir das dann machen, wenn noch mehr zu uns stoßen?«
Es dauerte einen Augenblick, bis der Inhalt ihrer Rede in das Bewusstsein der beiden Kampfhähne vordrang. Dann aber sahen sie ein, dass Marilus Argument unwiderlegbar war. Zé schämte sich ein wenig für seine Unbeherrschtheit, während João sich eher zu ärgern schien, dass er der Unterlegene gewesen war. Gleichzeitig war er aber erleichtert, den Kampf nicht weiterführen und sich vollends blamieren zu müssen.
»Du hast recht«, sagte Zé zu Marilu.
João grunzte unwillig, widersprach aber nicht.
Luizinho nickte. »Ja, wir müssen uns vertragen. Wie wär’s, wenn wir abstimmen, wer der Anführer sein soll?«
»Von mir aus«, sagte Marilu, und die anderen beiden nickten. »Also ich«, fuhr sie fort, »bin für Zé. Er kennt sich am besten hier aus, und er hat Freundschaft mit den Indios geschlossen. Das ist mehr, als ihr beiden vorzuweisen habt.« Dass sie selbst für die umkämpfte Position in Frage käme, schien ihr nicht in den Sinn zu kommen. »Wer ist noch für Zé?«
Zé und Luizinho hoben die Hand.
»Na, dann ist das doch schon mal geklärt«, begeisterte sie sich. »Und jetzt los, ihr drei Helden, auf die Jagd mit euch! Bringt mir fette Beute mit, damit ich euch heute Abend mal richtig schön satt kriege.« Dass Marilu als einzige Frau in der Gruppe das Kochen übernehmen sollte, war nie von irgendjemandem angezweifelt worden. Tatsächlich waren alle froh darüber, denn trotz des Mangels an herkömmlichen Zutaten gelang es ihr, halbwegs schmackhafte Mahlzeiten zuzubereiten. Auch ihrer aller Kleidung sah wieder sauberer aus, und rund um die Feuerstelle war es beinahe wohnlich geworden. Marilu fegte den kleinen Platz regelmäßig, auf dem die Männer den Stamm eines umgestürzten Baums zur Bank umfunktioniert hatten. Darüber hatten sie ein Schutzdach aus Blättern errichtet, denn es regnete oft unerwartet und heftig.
Die drei Neuankömmlinge hatten sich ähnliche Hütten gebaut wie zuvor Zé, jeder eine für sich. Marilu schien zwar enger mit Luizinho befreundet zu sein, doch wie Eheleute lebten sie nicht miteinander. Zé machte sich ein wenig Sorgen, wie es sich auf Dauer auf die Stimmung auswirken würde, wenn ein so krasser Frauenmangel herrschte. Er hoffte, dass Kasinda weitere Leute, darunter mehr Frauen, hierherschicken würde. Andererseits wurde natürlich jeder Mann gebraucht: Sobald sich die Existenz eines Quilombos in dieser Gegend herumsprechen würde, würden auch die Behörden Wind davon bekommen – und womöglich Soldaten herschicken. Gegen deren Übermacht und deren Bajonette konnte ein kleiner, den Flüchtlingen wohlgesinnter Indiostamm überhaupt nichts ausrichten. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich bis an die Zähne zu bewaffnen und sich ihren Wissensvorsprung und die bessere Ortskenntnis zunutze zu machen.
Aber solange sie hier nur zu viert hausten, würde man keinen solchen Aufwand betreiben, um sie aufzustöbern. Irgendwann einmal, wenn sich Zés Traum von einem großen Dorf erfüllt haben würde, konnte man mit dem Einfallen von Soldaten rechnen. Und bis dahin hätten sie vielleicht durch Handel ein wenig Geld verdient, das sie dann in Waffen, am liebsten Schusswaffen, investieren mussten. Oder wären Pfeile, Äxte und Speere sinnvoller? Da konnte wenigstens kein Pulver nass werden, und der Umgang damit war auch einfacher als der mit einem Schießgewehr. Keiner von ihnen hatte je ein solches Ding in der Hand gehabt, denn als Sklaven war
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