Das Lied des roten Todes
Wand, und zwischen jedem Paar befindet sich eine andere Tür. Alle stehen halb offen. Ich suche nach Spiegeln oder anderen Formen der Illusion; diese Kammer kann nicht so groß sein, wie sie scheint.
Auf der anderen Seite des Raumes sehe ich Aprils Mutter. Ich hatte nicht damit gerechnet, ihr hier zu begegnen, und sie ist der letzte Mensch, dem ich begegnen möchte.
Während ich herauszufinden versuche, wo der Prinz einen Gegenstand von besonderer Bedeutung für mich verborgen haben könnte, sieht sie mich und kommt zu mir nach vorn. Das goldene Haar, das beide Kinder geerbt haben, ist kunstvoll arrangiert und verdeckt die grauen Strähnen.
Meine Atemzüge werden rasch und flach. Ich muss es ihr sagen. Ich muss ihr ins Gesicht blicken und es ihr sagen.
Aber sie fragt nicht nach April.
»Komm.« Sie führt mich durch den Raum, weg von den Feiernden. Gäste tanzen überall, ihre Ballkleider wirbeln um sie herum.
»Wir müssen reden, du und ich«, sagt sie mit einer Stimme, die nahelegt, dass wir bis heute Abend mehr als nur ein paar Worte miteinander gewechselt haben. Ihre Stimme klingt scharf. Wenn ich April besucht habe, hat ihre Mutter immer überaus freundlich geklungen, als könnte sie nicht glauben, dass irgendjemand Zeit mit ihrer Tochter verbringen wollte. Heute Nacht klingt sie anders. Es trifft mich, dass sie mit mir nicht als Aprils Freundin spricht, sondern als der von Elliott … was immer sie auch glaubt, was ich für ihren Sohn bin.
Ich muss weg von ihr, aber sie hält mich am Arm fest, und ich glaube nicht, dass es gut für mich ist, eine Szene zu machen.
Sie führt mich zu den Damen mit ihren Porzellantassen und den Federfächern. Sie tragen spitzenartige weiße Masken und pastellfarbene Kleider, die in Kontrast zu meinem dunklen, kühnen stehen.
»Du musst Elliott helfen«, sagt Aprils Mutter. Ihre scharfen blauen Augen bohren sich durch ihre Maske in mich hinein. Pinkfarbene Federn liebkosen ihre Wangen. »Er wird seinen Onkel nicht töten können«, sagt sie. »Der Mann hat Macht über ihn. Du musst jemanden finden, der den Prinzen wirklich töten kann.«
»Elliott hasst seinen Onkel«, sage ich zu ihr. Ich habe das Geflecht aus Narben auf seinem Rücken selbst abgetastet. Ich weiß ein bisschen Bescheid über das, was Prospero ihn hat durchmachen lassen.
»Das tut er. Aber das bedeutet nicht, dass er tun kann, was getan werden muss. Als du früher einmal hier warst, hat der Prinz versucht, dich zu vergiften, ja?«
Als ich nicke, stoßen die Saphire an meiner Kehle wieder gegen die empfindliche Haut.
»Du bist mit Prospero allein in einer Kutsche gewesen. Elliott plante eine Rebellion. Hast du dich nie gefragt, warum Elliott ihn damals nicht getötet hat?«
Ich starre sie an. Was will sie da andeuten?
»Denkst du wirklich, er hat nicht irgendwo eine verborgene Waffe gehabt? Oder zweifelst du daran, dass Elliott einen Menschen mit bloßen Händen töten könnte? Sein Onkel hat ihn dazu sehr, sehr gut ausgebildet.«
»Daran zweifle ich nicht«, flüstere ich.
Die Damen um uns herum nippen zu den Klängen von Streichinstrumenten, die sich in irgendeinem verborgenen Alkoven befinden, an ihrem Tee. Alles hier ist verborgen unter Schichten der Täuschung. Wie die Motive dieser Frau.
»Jeder Tag, an dem Prinz Prospero lebt, ist ein Tag mehr, an dem er Leiden verursacht.«
»Ich verstehe«, sage ich. Und ich pflichte ihr bei.
»Es war weise von Elliott, sich für dich zu entscheiden. Trink etwas mit mir, bevor du zum nächsten Raum weitergehst.« Sie geht zu einem Tisch, auf dem silberne Kelche stehen.
Ich habe das, was in diesem Raum verborgen ist, noch nicht gefunden, aber ich kann es nicht ertragen, mit dieser Frau etwas zu trinken, wenn ich weiß, dass ihre Tochter tot ist und sie es nicht weiß. Ich kann später in diesen Raum zurückkehren, wenn ich die anderen Gegenstände gefunden habe.
Leute kommen und gehen. Aber ich begreife, dass sie nicht wirklich gehen. Sie tanzen im Walzerschritt durch die eine Tür hinaus und durch eine andere wieder herein. Es ist eher eine Reihe von engen Bogen statt ein Übergang in einen anderen Raum. An der Wand linker Hand befinden sich jedoch purpurne Wandbehänge. Ich vermute, dass auch hier, wie schon im anderen Raum, die Haupttür verborgen ist. Ich gehe weiter, will gerade einen der Vorhänge zur Seite schieben, als mir eine Wache den Weg verstellt. Der Mann lächelt und zieht ein übel aussehendes Messer aus einer Scheide an seiner Seite.
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