Das Lied des Todes
erwachsen und wollen ein normales Leben führen, sich frei bewegen können, vielleicht Kinder haben. Das Leben geht weiter!»
«Die Kinder können dich begleiten, Mönch», sagte Velva. «Sie werden sich in deiner Welt zurechtfinden. Aki hat eure Schrift und eure Sprache schnell gelernt. Er beherrscht sie mittlerweile besser als du, Ketil. Aber ich gehöre nicht in deine Welt, in der ein Gott herrscht, der keine anderen Götter neben sich duldet.»
Sie hatte also doch die ganze Zeit Bescheid gewusst, fuhr es Aki durch den Kopf.
«Allein wirst du sterben, Mutter!», rief er.
«Das entscheiden die Götter.»
«Bitte denk über Ketils Angebot nach», flehte Asny.
«Mein Entschluss steht fest. Es bleibt euch überlassen, was ihr tut. Ihr seid keine Kinder mehr.»
Sie wandte sich ab und kroch zum Schlaflager. Dort drehte sie sich noch einmal um.
Aki erschrak, als er auf ihrem Gesicht einen Schatten bemerkte. Das letzte Mal hatte sie nach Gydas Tod so ausgesehen. Aber da war auch etwas Wissendes in ihrer Miene – etwas, das sie den anderen verschwieg und das nichts Gutes bedeutete.
37.
Ketil träumte von dem Tag, an dem er Island hatte verlassen müssen. Nachdem das Urteil auf der großen Zusammenkunft, dem Allthing, gegen ihn gesprochen worden war, ritt er mit seinem Vater zu einer Bucht bei den Ostfjorden, in der ein Handelsschiff angelegt hatte. Die Menschen hatten sich am Ufer versammelt. Sie wollten mit eigenen Augen sehen, dass Ketil das Land wirklich verließ. Die Familie des getöteten Jungen beschimpfte Ketil. Die Mutter warf Steine nach ihm.
Der einzige Mensch, der an diesem Tag trauerte, war sein Vater. Er hatte sich abseits von den anderen auf einem Stein niedergelassen. Dort saß er auch, als das Schiff längst abgelegt hatte und das offene Meer ansteuerte, ein einsamer, gebrochener Mann.
Seit jenem Tag hasste Ketil Trennungen.
Als er an diesem Morgen noch vor den anderen erwachte, wusste er, dass ein weiterer Abschied bevorstand, ein Abschied, der ebenso schmerzhaft sein würde wie jener damals auf Island. Wieder einmal musste er Menschen, die er liebte, verlassen, und wieder einmal wusste er nicht, ob er sie jemals wiedersehen würde.
Aber er hatte einen Auftrag zu erfüllen. Er musste Brun von Thankmars Gräueltaten berichten!
Die Zwillinge hatten sich zwar gestern Nacht noch nicht entschieden, aber Ketil war überzeugt, dass sie es nicht übers Herz bringen würden, ihre Mutter allein zu lassen. Um ihnen diese Entscheidung abzunehmen, wollte er ihnen den Abschied erleichtern und im Morgengrauen aufbrechen, wenn alle noch schliefen.
Es ist, wie es ist
, hatte Velva gesagt.
Und das, was war, bleibt, dachte Ketil und hoffte, dass die anderen ihn in guter Erinnerung behalten würden.
Auf allen vieren kroch er zum Ausgang der Höhle und zwängte sich durch das Loch. Wie oft hatte er diese enge Behausung verflucht, ebenso wie das dornige Gestrüpp, hinter dem das Loch verborgen war. Nun aber dachte er mit Wehmut an die Zeit mit Velva und den Zwillingen. Ihm war schon jetzt klar: Selbst die Dornen, an denen er seine Kutte zerrissen hatte, würden ihm fehlen.
Draußen vor dem Erdhügel sah er im ersten Dämmerlicht, dass sich der Winter noch einmal gegen den nahenden Frühling erhoben und in der Nacht den Waldboden mit einer dünnen Schicht aus Schnee und Raureif überzogen hatte. Dennoch würden die ersten Schiffe bereits wieder vom Treenehafen ablegen. Wenn der Waldbach eisfrei war, waren es die salzigen Küstengewässer ebenfalls.
Bevor Ketil die Lichtung verließ, kniete er in der Nähe des Höhleneingangs nieder, wischte den Schnee von einem Stein und legte drei Münzen darauf. Die anderen drei behielt er für eine Anzahlung der Schiffspassage. Den Rest würde er in Colonia nachliefern.
Auf dem Weg zum Versteck hinterließ er Spuren im Schnee. Er versicherte sich, dass keine Spinne auf dem Stein saß, holte das Buch hervor und schob es unter seine Kutte.
Als er sich für einen letzten Abschiedsblick zur Lichtung umdrehte, kam ihm der Gedanke, dass er die drei vielleicht doch irgendwann wiedersehen würde. Er würde dem Erzbischof anbieten, in die Mark zurückzukehren. Nicht er allein natürlich, sondern in Begleitung von Soldaten. Brun war der Erzkanzler und verfügte über Soldaten. Er konnte nicht zulassen, dass der Markgraf und der Bischof die christlichen Werte mit Füßen traten und unschuldige Menschen misshandelten. Nein, Brun musste Bewaffnete schicken, die den beiden das
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