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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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geht, und die Zeit der Entscheidung kommt», sagte sie in ihrer knappen Art. Sie verschwendete ihren Atem nicht für überflüssige Worte.
    Aus der Ecke war ein Räuspern zu hören.
    «Komm zu uns, Mönch!», sagte Velva.
    Das Räuspern wurde zu einem Stöhnen. Ketil kroch aus dem Dunkeln und ließ sich zwischen Aki und Asny am Feuer nieder.
    Er wiegte seinen großen Kopf hin und her. «Ja, die Zeit der Entscheidung …»
    Im Feuer knackten glühende Scheite. Funken stoben auf.
    «So hart dieser Winter auch war», sagte Velva nach einer Weile, «Schnee und Eis haben uns Schutz vor den Soldaten geboten. Sobald jedoch der Frühling kommt, wird der Graf die Jagd auf uns wieder eröffnen. Dieses Mal wird er das Gebiet leichter eingrenzen können. Er weiß nun, wo er suchen muss, nachdem man euch auf dem Marktplatz beinahe erwischt hätte.»
    Auf Ketils Stirn glitzerten Schweißperlen. «Ihr habt recht, Seherin, und das bedeutet, dass ihr die Höhle verlassen müsst.»
    «Ihr?», fragte Aki verwundert.
    «Ja, ihr – du, Asny und eure Mutter.»
    «Und was geschieht mit dir?»
    «Ketil wird uns nicht begleiten», antwortete Velva an seiner Stelle.
    «Warum nicht?», fragte Asny.
    «Weil ich nach Colonia zurückkehre», antwortete Ketil. Er schaute Velva irritiert an. Offenbar fragte er sich, woher sie von seinen Plänen wusste.
    «Nein!», rief Asny. In ihrer Stimme schwang ein Anflug von Panik mit. Ebenso wie Aki mochte sie Ketil sehr. Ein Leben ohne ihn konnten sich beide nicht mehr vorstellen. Auch Aki traf die Ankündigung wie ein Schlag. Ketil wollte sie ihrem Schicksal überlassen!
    «Aber du bist unser Freund!», sagte er. «Nein, nicht nur ein Freund – du gehörst zu uns.»
    Und das stimmte. Ketil war für Aki wie ein großer Bruder, vielleicht sogar wie der Vater, den Aki niemals gehabt hatte.
    «Erklär es ihnen», sagte Velva.
    Ketil starrte auf seine Hände, als sei dort irgendetwas Besonderes zu sehen.
    «Ich habe euch erzählt, dass Herr Brun, der Erzbischof von Colonia, mich in die dänische Mark geschickt hat, damit ich für ihn herausfinde, was Graf Thankmar hier treibt.»
    «Das hast du uns erzählt», warf Asny ein. «Aber du hast auch gesagt, dass die alten Götter dich zu uns geführt haben und dass du uns helfen willst.»
    Ketil nickte nachdenklich. «Ja, und ich habe euch geholfen, den Winter zu überstehen. Nun ist es an der Zeit, nach Colonia zurückzukehren. Ich muss meinen Auftrag zu Ende führen. Ich muss Herrn Brun von Thankmars Untaten berichten, damit er dem Mörder das Handwerk legt.»
    Er schaute einen nach dem anderen aus feucht schimmernden Augen an. «Es tut mir leid.»
    «Es ist, wie es ist», sagte Velva.
    «Vielleicht gibt es aber doch noch eine andere Möglichkeit», entgegnete Ketil. «Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich euch diesen Vorschlag machen soll. Wollt ihr mich nach Colonia begleiten?»
    «Ja», riefen Aki und Asny wie aus einem Munde.
    Aki fand diese Idee wunderbar. So häufig hatte Ketil ihnen von der Stadt mit ihren gepflasterten Straßen und den aus Steinen erbauten Häusern erzählt, dass Aki eine lebhafte Vorstellung von Colonia hatte. Es gab sogar Nächte, in denen er von den belebten Märkten träumte, auf denen es alles zu kaufen gab, was man sich nur wünschte. Außerdem war er neugierig auf Ketils Kloster. In einem Gebäude, der
bibliotheca
, sollte es Hunderte Bücher geben. Aki wusste, dass sich auch Asny nach einem Leben mit den Annehmlichkeiten sehnte, die eine Stadt ihnen bieten könnte.
    Ein Lächeln legte sich über Ketils Gesicht, das so viele Tage überschattet gewesen war. «Mein Herr Brun würde auch Euch mit offenen Armen empfangen, Seherin …»
    «Nein!»
    Das Wort hing eine Weile in der rauchgeschwängerten Luft wie eine Gewitterwolke, die jeden Augenblick zu platzen drohte. Dieses Nein war so bestimmt, dass die Träume der Zwillinge sich in nichts auflösten.
    «Warum nicht, Mutter?», fragte Asny.
    Ketil holte die letzten Geldstücke hervor, die ihm noch geblieben waren. «Es sind zwar nur sechs Münzen. Wenn wir jedoch einem Schiffsführer unsere Hilfe an Bord anbieten, wird er uns alle bestimmt mitnehmen …»
    «Nein!» Velvas Kiefermuskeln zuckten. «Ich bin dir dankbar für alles, was du für uns getan hast, Mönch. Aber unsere Wege werden sich wieder trennen.»
    Ketil gab nicht auf. «Wollt Ihr für immer im Wald bleiben, Seherin? Immer mit der Angst leben, dass der Graf Euch ausfindig macht? Denkt an Eure Kinder. Sie sind

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