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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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der rechten Hand drückte Grim noch immer Asnys Brust.
    «He, Hurensohn», flüsterte Grim in Akis Ohr, «ich lasse dich dabei zuschauen, wenn ich es deiner Schwester besorge …»
    Da hörte Aki die Geräusche von Schritten, und er spürte, wie der Druck auf die Kette schwächer wurde. Er hob den Kopf. Geirmund hatte Grim an den Schultern gepackt und von den Zwillingen weggezogen.
    «Was machst du hier?», bellte der Alte. Brotkrumen rieselten aus seinem Bart.
    Grim breitete entschuldigend die Arme auseinander.
    «Ich wollte nur nachschauen, ob die Ketten fest sitzen, und da hat mich der Kerl plötzlich angegriffen. Mit der Kette wollte er mich schlagen, dieser … dieser …»
    «Halt den Mund», fauchte Geirmund.
    Sein finsterer Blick glitt von Grim zu Aki und dann zu Asny, die ganz dicht an ihren Bruder gerückt war.
    Aki hatte die Hände zu Fäusten geballt, zwischen den Fäusten pendelte die Kette hin und her. Er überlegte, ob er Grim widersprechen und Geirmund erzählen sollte, was sich wirklich zugetragen hatte. Aber der Alte würde wohl eher seinem Sohn als einem Sklaven glauben.
    «Wir müssen den Hurensohn bestrafen, Vater», sagte Grim.
    «Natürlich müssen wir das», meinte Geirmund. «Ich würde ihm eigenhändig die Haut vom Leib peitschen. Aber du weißt genau, dass wir die beiden noch brauchen.»
    «Sicher, Vater, wir dürfen ihnen keine äußeren Verletzungen zufügen. Nein, das nicht!»
    «Komm jetzt!», forderte Geirmund ihn auf. «Lass uns was trinken.»
    Dann ging er zurück. Grim folgte ihm, blieb an der Leiter aber noch einmal stehen und drehte sich zu den Zwillingen um. Mit einem hintergründigen Grinsen hob er seine rechte Hand, ballte sie zur Faust und schob den Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger. Dabei leckte er sich so genüsslich die Lippen, als habe man ihm einen knusprigen Braten vorgesetzt – und sein Blick war dabei auf Asny gerichtet.

42.
    Wie ein Leichentuch legte sich die Dämmerung über das schwarze Wattenmeer. Die Wolken waren nahezu verschwunden. Am Himmel funkelten unzählige Sterne, und der Wind trieb die bittere Kälte des offenen Meeres auf das Deck des Wattenvogels.
    Ein letztes Mal schaukelte das Schiff sanft hin und her, bevor sich der flache Kiel auf dem Schlick absetzte. Dann stand es still.
    Aki beobachtete, wie sich Fulrad und eine Handvoll anderer Männer an Deck sammelten. Sie waren in dicke Mäntel gehüllt, ihre Füße steckten in hohen Lederstiefeln. In den Händen hielten sie Fischspeere und Eimer. Sie wollten in den Prielen Schollen, Flundern und Aale stechen. Sollten sie erfolgreich sein, würden die Fische eine willkommene Abwechslung auf dem Speiseplan bedeuten, der an Bord vor allem aus hartem Brot und Zwiebeln bestand.
    Zu Akis Erleichterung war Asny mit dem Kopf an seiner Schulter eingeschlafen. Sie war völlig entkräftet und brauchte dringend Schlaf. Auch Aki war erschöpft, aber in seinem Kopf kreisten ruhelose Gedanken. Er konnte Grims Blick nicht vergessen und war überzeugt, dass er alles daransetzen würde, Asny zu missbrauchen. Grim hatte offenbar länger kein Weib mehr gehabt. Außerdem – davon war Aki überzeugt – wollte sich Grim wegen der alten Geschichte bei dem Ballwettbewerb rächen. Die einzige Hoffnung ruhte auf Geirmund, dem das Geld wichtiger war als Vergeltung.
    Vorsichtig, um Asny nicht zu wecken, löste sich Aki von ihr und richtete sich so weit auf, bis er über die Bordwand schauen konnte. In einiger Entfernung zog sich das Ufer der flachen, mit Wäldern überzogenen Insel am Horizont dahin und verschwand allmählich in der Dunkelheit. Von den Erzählungen der Männer an Bord wusste Aki, dass es hier viele dieser Inseln gab, die der friesischen Küste wie ein schützender Riegel vorgelagert waren.
    Der Mond hatte sich bereits über den Rand der Welt erhoben und tauchte die feuchte Wattenlandschaft in ein geheimnisvoll glitzerndes Licht. Schemenhaft konnte Aki die Männer erkennen, die an den schmalen Wasserläufen entlanggingen, wobei sie immer wieder ihre Speere in die Priele stießen.
    Im Wattenmeer wurden die Fahrtpausen nicht nur durch die Nächte bestimmt, sondern auch durch die Gezeiten. Daher dauerten die Fahrten zwischen der Küste und den Inseln, die man auch Binnenfahrten nannte, wesentlich länger als jene über das Meer, waren aber sicherer. Ein Unwetter, wie das vom Nachmittag, hätte den Wattenvogel auf offener See zum Kentern gebracht.
    Als vom Deck her gedämpfte Stimmen an Akis Ohren drangen,

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