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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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Wirkung.
    Mit dem Becher in der Hand wagte sich Thankmar ans Fenster. Aus dem Silberstreif war ein helles Band geworden. Bald würde das Leben auf der Burg und im Zeltlager erwachen.
    Thankmar trank.
    Er hatte es überstanden, war der Hölle entkommen, wieder einmal. Doch wie lange noch? Wie lange noch würde er der Seherin widerstehen können? Sie würde zurückkehren, bis sie das bekam, wonach sie trachtete – sein Leben, seine Seele.
    Ich bin für immer und ewig dein! Ich bin dein Weib. Ich bin du – du bist mein …
    Thankmar fragte sich, was diese Worte zu bedeuten hatten. Niemals zuvor hatte sie sie ausgesprochen. Warum ausgerechnet jetzt?
    Thankmar schüttelte den Gedanken ab und schenkte nach. Als er erneut aus dem Fenster schaute, merkte er, dass der Wein allmählich seinen Blick trübte. Im Heerlager waren Bewegungen auszumachen. Vor seinen Augen verschwommen die Gestalten, die zwischen den Zelten hin- und herliefen und Sachen zusammenpackten.
    Die Zeit für den Aufbruch war gekommen, und Thankmar war betrunken.
    Er füllte den Becher wieder.
    Nun zitterte er nicht mehr. Der Wein erfüllte ihn mit Mut.
    «Du wirst mich niemals kriegen, Dämon», zischte er durch zusammengebissene Zähne.
    Laute Stimmen rissen ihn aus seinen Gedanken. Aus den Langhäusern traten mit Gepäck beladene Männer. Unter ihnen waren auch die Soldaten seiner Haustruppe, deren blutrote Mäntel vor seinen Augen tanzten. Er kniff die Augen zusammen, er sah schon doppelt.
    Ein letzter Becher noch, dann würde er sein Schwert gürten und in den Tag hinaustreten …
    Verdammt, König – reiß dich zusammen!, befahl er sich und stellte den Becher mit einem leisen Knall auf dem Tisch ab. Kein Wein mehr.
    Er wollte sich gerade vom Fenster abwenden, als ihn etwas innehalten ließ. Der Schmetterling war wieder da. Er ließ sich auf dem Fensterbrett nieder, wo er seine Flügel ausbreitete. Er saß ganz still und ließ sich auch nicht stören, als Thankmar sich über ihn beugte.
    Ein kalter Schauer fuhr ihm über den Rücken, als er die Zeichnungen auf den rostroten Flügeln betrachtete. Sie hatten auf den Spitzen augenförmige Flecken, die schwarz, blau und gelb gefärbt waren und aussahen wie …
    Thankmar spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte.
    Die Flecken sahen aus wie die tätowierten Sonnen auf der Haut der Seherin. Nein, das war unmöglich, und doch war er umso mehr davon überzeugt, je länger er die Flügel betrachtete. Dabei hatte er bereits Hunderte dieser Schmetterlinge gesehen. Aber niemals zuvor war ihm die Ähnlichkeit aufgefallen.
    Ob es am Wein lag, der seine Sinne benebelte? Oder litt er noch immer unter dem Schock?
    Er wusste in diesem Augenblick nur eines – er musste das Tier haben.
    Vorsichtig führte er seine Hände über den Schmetterling und fing ihn ein. Auf seinen Handflächen, die eine Höhle um das Insekt formten, spürte er die kitzelnden Bewegungen der aufgeregten Flügelschläge, dann presste er seine Hände mit sanftem Druck zusammen.

44.
    Gerüstet wie ein Kriegsherr, trat Thankmar in den jungen Tag hinaus, das lange Schwert am Gürtel, ebenso Kurzschwert und Messer, den Schild über der Schulter. Vom Helm hing ein Kettenschutz über Schultern und Nacken. Er hatte den Helm aufgesetzt, um sein vom Weinrausch rot angelaufenes Gesicht zumindest zum Teil zu verdecken.
    Er blinzelte am
Nasal
, dem Nasenschutz seines Helms, vorbei in die Sonne, die sich über der Eresburg in den blassblauen Himmel erhob. In der Nähe waren einige Soldaten stehen geblieben und schauten neugierig zu ihm herüber.
    Er maß die Entfernung bis zum weit geöffneten Burgtor. Es waren etwa einhundert Schritte, einhundert Schritte über den vom Regen aufgeweichten Boden, auf dem sich das Wasser in unzähligen Pfützen gesammelt hatte. Ein tückischer, rutschiger Untergrund, vor allem wenn man so viele Becher Wein geleert hatte.
    Thankmar hatte ein flaues Gefühl im Magen. Er musste unbedingt etwas essen. Wie viele Becher waren es wohl gewesen?
    Er holte tief Luft und ging los. Er konzentrierte sich auf den Boden vor seinen Füßen, setzte einen Fuß vor den anderen.
    Die Soldaten nahmen Haltung an, als er an ihnen vorbeistapfte. Er musterte sie aus den Augenwinkeln und achtete auf ihre Reaktionen. Es schien ihnen nicht aufzufallen, dass er betrunken war.
    Ohne Zwischenfall erreichte er das Tor, trat hindurch und folgte dem mit Bohlen befestigten Weg zum Heerlager. Dort verluden Soldaten und Bedienstete Zelte, Waffen, Vorräte

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