Das Lied des Todes
Gewicht. Das Fell rutschte in seinen Schoß. Sofort fror er in seiner schweißgetränkten Tunika. Er legte das Fell zur Seite, stellte seine Füße auf den kalten Boden und erhob sich.
Tastend bewegte er sich durch die Dunkelheit zur gegenüberliegenden Wand und von dort ein Stück weiter nach links, bis er den Schemel fand, auf dem er am Abend seine Kleider abgelegt hatte. Er tauschte die verschwitzte Tunika gegen eine neue aus, zog Stiefel an und hängte sich schließlich den dicken Mantel um die Schultern.
Allmählich entspannte sich sein Körper. Aber in seinem Kopf kämpften die Gedanken noch immer gegen die schrecklichen Bilder an.
Wochenlang hatte sie ihn in Ruhe gelassen – so lange, dass er bereits gehofft hatte, ihre Macht habe nachgelassen, weil er so weit von der Mark entfernt war. Oder sei sogar vollkommen verschwunden.
Doch die Hoffnung war trügerisch. Die Seherin war zurückgekehrt und hatte ihn unvermittelt angesprungen wie ein hungriges Raubtier, das hinter einer Ecke auf Beute lauerte. Und beinahe hätte es ihn gefressen.
Thankmar atmete einige Male durch. Sein Herz schlug noch immer schnell, die Schläge waren jedoch nicht mehr so heftig.
Er brauchte dringend frische Luft. Mit ausgestreckter Hand tastete er sich weiter an der Wand entlang und stieß auf die Ecke, von der aus er der anderen Wand folgte. Irgendwo musste doch das Fenster sein! Dutzende Nächte hatte er in dieser Zelle verbracht, die Gunther ihm im Palas der Eresburg überlassen hatte. Thankmar hätte auch bei den anderen im Schlafsaal übernachten können, der immerhin durch Kaminfeuer beheizt wurde. Aber es war für ihn undenkbar, in der Nähe anderer Männer zu schlafen. Er musste allein sein, allein mit seinen Ängsten. Wie hätte er es ihnen erklären sollen? Er, der kommende König, durfte keine Schwäche zeigen.
Der einzige Mensch, der von dem Fluch wusste, war Poppo. Thankmar bedauerte, den Bischof nicht bei sich zu haben, und er hatte vor der Abreise von der Markgrafenburg lange darüber nachgedacht, Poppo mitzunehmen. Doch jemand musste über die Mark wachen. Den Dänen war nicht zu trauen. Wer wusste schon, auf welche Gedanken der Dänenkönig Harald Gormsson gekommen wäre, wenn alle sächsischen Besatzer das Feld räumten.
Thankmar ließ seine Finger über die raue Wand gleiten. Wo war das Fenster?
Die Zelle war nicht groß, fünf Schritt in der Länge vielleicht und vier in der Breite. Thankmar kannte jeden Winkel, und doch fand er nun dieses verdammte Fenster nicht.
Sein Herz begann wieder heftiger zu schlagen.
Da stieß er mit dem linken Oberschenkel gegen den Tisch. Ein Becher klapperte. Nachdem Thankmar am Abend mit Barthold, Gunther und den anderen Aufständischen die letzten Details besprochen hatte, hatte er einen Krug Wein und einen Becher mit in die Zelle genommen. Er hatte den Wein jedoch nicht angerührt, auch wenn das Verlangen groß gewesen war, vor dem Einschlafen noch etwas zu trinken. Die Vernunft hatte gesiegt. Schließlich stand der Aufbruch des Heeres unmittelbar bevor. Thankmar brauchte einen klaren Kopf, wenn er die Truppen nach Westen führte.
Nun verspürte er einen heftigen Drang nach dem Wein, um das Gewitter in seinem Kopf zu bändigen. Seine Hand glitt über die Tischplatte. Da war der Krug. Er war schwer und bis an den Rand gefüllt. Sollte er einen Schluck nehmen, nur einen halben Becher …
Nein! Er war der Führer eines mächtigen Heeres.
Seine Finger glitten weiter, bis er den Lederschlauch fand. Er setzte ihn an die Lippen und trank Wasser. Das Herzpochen flaute ab, und als er sich wieder zur Wand drehte, ertastete er endlich das Fenster. Er schob den kleinen Riegel zurück und stieß den Laden auf. Frische Luft schwappte in den Raum. Thankmar atmete tief ein. Endlich wurden seine Gedanken klarer.
Das Fenster ging zur Ostseite. Am Horizont schimmerte über dem Burgwall ein erster Silberstreif. Der Tag war nicht mehr fern.
Thankmar versuchte, seine Gedanken auf Otto zu konzentrieren. Er stellte sich vor, wie der falsche König in diesem Moment irgendwo arglos im Bett lag und keine Ahnung hatte, dass sich sein Todfeind auf den Weg machte, um ihm die Krone zu entreißen. Diese Vorstellung zauberte Thankmar ein Lächeln auf die Lippen. Der Tag der Rache kam näher!
Da bemerkte er eine Bewegung. Ein Insekt flatterte am Fenster vorbei, vielleicht ein Schmetterling oder eine Motte.
Thankmar wollte sich gerade vom Fenster abwenden, als mit einem Mal etwas geschah, das ihn auf
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