Das Lied des Todes
direktem Wege in die Hölle zurückschleuderte, der er soeben entkommen war. Wie aus dem Nichts öffnete sich vor dem Fenster ein gleißender, heller Schein. Im ersten Augenblick dachte Thankmar an eine Stichflamme.
Doch dann sah er eine Gestalt.
Sie! Herrgott, Allmächtiger!, flehte Thankmar. Herrgott, allmächtiger Vater!
Er taumelte in die Zelle, die nun von Flammen erfüllt zu sein schien. Die Hitze war unerträglich. Feuer, überall war Feuer.
Und dann tauchte sie im Fenster auf.
Zunächst sah er nur ihr Gesicht. Es war umrahmt von einem Meer aus pulsierender Glut. Aus ihren Augen züngelten Flammen.
Thankmar taumelte weiter, stieß mit dem Rücken gegen die Wand. Wo war die Tür? Es war doch so hell, dass er sie erkennen müsste. Aber sie war verschwunden. Da war nur Helligkeit, blendende Helligkeit.
Und das Wesen, das kaum einem Menschen glich. Es kroch – nein: Es floss durch das Fenster in die Zelle, die Wand hinunter auf den Boden und bewegte sich auf Händen und Knien kriechend auf Thankmar zu. In dem Feuergesicht öffnete sich ein zahnloser Mund, und begleitet von Feuerströmen quollen Worte daraus hervor:
Gewaltiges komme, bersten Klippen, die Welt erbebe, schlecht werde der Wind, Gewaltiges komme …
Die Seherin war gekommen, um ihn zu holen.
Thankmar sackte mit dem Rücken an der Wand auf den Boden. Er zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie, als könnte er ihr entfliehen, wenn er sich nur so klein wie möglich machte.
Sie war niemals fort gewesen. Er durchlebte den Albtraum erneut. Oder war es die Realität?
Sie kam näher, schob die unerträgliche Hitze wie eine Bugwelle vor sich her. Thankmar ergriff den hölzernen Span, sein Amulett, und streckte es ihr entgegen. Die Seherin stieß zischelnde Laute aus, Stichflammen schossen aus ihren Augen. Auf ihrem Feuerleib pulsierten die Tätowierungen, die Sonnen.
Thankmar wollte den Blick abwenden. Er zwang sich, die Augen zu schließen, kniff sie zusammen. Doch immer wieder öffneten sie sich, als würden unsichtbare Finger an seinen Lidern zerren. Er sollte mit ansehen – musste mit ansehen –, was geschah!
Ich werde dir die Brust zerbrechen, dass giftige Nattern dein Herz zernagen, dass deine Ohren für immer ertauben und deine Augen aus deinem Schädel springen …
Sie war so dicht vor ihm, dass Thankmar zu spüren glaubte, wie die Hitze seine Haare versengte und wie sich seine Haut vom Fleisch schälte.
Dass deine Ohren für immer ertauben und deine Augen aus deinem Schädel springen …
Sie streckte ihre Hände nach ihm aus. Die Finger verwandelten sich in dünne, glühende Schlangen, die aus ihren Fingern wuchsen und sich seiner Brust näherten.
«Nein!», brüllte Thankmar. «Nein! Nein! Nein!»
Heiße Tränen rannen über seine Wangen. «Du bist nicht wahrhaftig. Ich bilde mir das alles nur ein …»
Der Flammenkörper bäumte sich auf. Die Sonnen auf ihrer brennenden Haut leuchteten heller als jemals zuvor.
«Ich bin dein!», schrie die Seherin. Ihre Worte wurden von einem Feuerschwall begleitet.
«Ich bin für immer und ewig dein! Ich bin dein Weib. Ich bin du – du bist mein!»
Mit aller Gewalt presste Thankmar seinen Kopf hart auf die Knie. Ihm wurde schwarz vor Augen.
Dann – mit einem Mal – umgab ihn Stille, und es wurde eiskalt.
Es dauerte eine Weile, bis Thankmar merkte, dass das einzige Geräusch, das er noch hörte, sein eigenes Schluchzen war. Er nahm den Kopf von den Knien. Durch das Fenster drang ein sanfter Schimmer. Die Konturen der spärlichen Einrichtung schälten sich vor seinen Augen aus dem Zwielicht. Da, gleich vor ihm, war der Tisch mit dem Weinkrug, dem Becher und dem Trinkschlauch, links davon das Bett und rechts der Schemel. Das verschwitzte Hemd war zu Boden gerutscht. Alle Sachen waren unversehrt, nirgendwo waren Brandspuren zu erkennen.
Thankmars Blick glitt zum Fenster. Dahinter graute der Morgen.
Traum oder Realität?
Er erhob sich mühsam. Seine Knie schlotterten. Er musste sich an der Wand abstützen, um nicht der Länge nach hinzufallen. Er wartete einige Atemzüge ab, dann schleppte er sich zum Tisch. Ohne einen einzigen Gedanken damit zu vertun, was vernünftig war und was nicht, füllte er Wein in den Becher. Seine Hände zitterten, unter dem Krug bildete sich eine rote Pfütze. Er stellte den Krug ab, setzte den Becher an und leerte ihn, dann einen zweiten und einen dritten.
Das Zittern ließ nach. Der Wein entfaltete seine berauschende, beruhigende
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