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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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Augenblick vergaß er die Seherin und führte sein Schlachtross bis ganz nach vorn. Dann drehte er sich im Sattel um, hob die linke Hand – und alles gehorchte seinem Befehl.

45.
    Der Wattenvogel glitt durch dichten Nebel.
    Sein Ziel war die Handelssiedlung Staveran, die irgendwo am östlichen Ufer der großen Meeresbucht, der
almera
, lag. Durch die Wand aus milchig trüben Schwaden, die das Schiff umwaberten, war weder vom Ufer noch von der Siedlung etwas zu sehen. Eigentlich war überhaupt nichts zu sehen außer einem kleinen Ausschnitt der spiegelglatten Wasseroberfläche, auf der der Wattenvogel geräuschlos dahinglitt.
    An diesem Tag, dem neunten, seit sie im Treenehafen aufgebrochen waren, war es nahezu windstill. Fulrad hatte das Segel nicht hissen lassen, und nur hin und wieder tauchten die Ruder ins Wasser, um dem Schiff einen kleinen Schub zu geben.
    Aki und Asny warteten wie alle anderen auf den Ruderbänken auf Fulrads Kommando. Der Schiffsführer stand wie immer am Steuer und hielt ständigen Kontakt mit dem Lotsen im Bug.
    Vom Lotsen hing bei dieser Blindfahrt das Schicksal des Schiffes mehr denn je ab. In regelmäßigen Abständen war das platschende Geräusch zu hören, wenn er die mit dem Senkblei beschwerte Leine ins Wasser warf. Überall konnten Untiefen und Steine lauern, die dicht unter der Oberfläche verborgen waren.
    «Drei Faden Wasser unter dem Kiel!», rief der Lotse, nachdem er die Leine eingeholt und gleich wieder ausgeworfen hatte.
    Fulrad befahl, die Ruder einmal durchzuziehen. Der Wattenvogel nahm etwas Fahrt auf, dann ließ man ihn wieder gleiten.
    «Zweieinhalb Faden!», stellte der Lotse fest.
    Fulrad ließ einen weiteren Ruderschlag machen.
    Auf der Bank hinter den Zwillingen stieß Geirmund einen keuchenden Laut aus, der in einen krampfartigen Anfall überging. Der Husten zerriss die angespannte Stille auf dem Wattenvogel wie Peitschenschläge.
    «Lass das Rudern, Vater», hörte Aki Grim sagen. «Leg dich hin und ruh dich aus.»
    Geirmund hustete erneut.
    «Ich werde mich ausruhen, wenn ich mit Odin in der Walhall feiere», gab er mürrisch zurück.
    Aki warf einen Blick über seine Schulter. So wie Geirmund aussah, würde es nicht mehr lange dauern, bis die Götter ihn abriefen. Seine roten Augen glotzten stumpf und abwesend aus einem Gesicht, das bleich wie das einer Leiche war.
    «Ein Faden!», rief der Lotse.
    Fulrad ließ das Schiff ohne Ruderschlag weitergleiten.
    «Guck nach vorn, Hurensohn!», knurrte Grim Aki an.
    Er wandte sich ab.
    Das Plätschern der Bugwelle begleitete seine Gedanken. Er war erleichtert, dass sich Asnys Zustand in den vergangenen Tagen erheblich gebessert hatte. Es war wohl doch eine vorübergehende Seekrankheit gewesen. Am Tag nach dem Vorfall mit dem Feuer hatte Asny endlich wieder Brot herunterbekommen und es bei sich behalten. Bald darauf hatte sie ihren Anteil mit Heißhunger verspeist. Aki hatte ihr stets größere Stücke abgebrochen als für sich selbst, ohne dass Asny dies bemerkte. Sie hätte es niemals zugelassen, dass ihr Bruder um ihretwillen auf etwas verzichtete.
    Asnys Genesung schürte neue Hoffnung. Wenn sie fliehen wollten, musste Asny bei Kräften sein. Eine Gelegenheit, an die Schlüssel zu gelangen, hatte sich aber bislang nicht ergeben. Grim legte den Lederbeutel niemals zur Seite und trug ihn Tag und Nacht an seinem Gürtel. Außerdem wachte er aufmerksam über die Zwillinge. Aber seit dem letzten Mal hatte er keine weiteren Versuche unternommen, sich an Asny zu vergehen.
    Auch das machte Aki Mut, den Gedanken an Flucht nicht aufzugeben – wenn er doch nur endlich an die Schlüssel kommen würde.
    Wieder hustete Geirmund, dieses Mal so laut, dass Fulrad beinahe die Warnung des Lotsen überhört hätte.
    «Wie tief?», rief Fulrad.
    «Halber Faden», wiederholte der Lotse. «Nur noch ein halber Faden!»
    «Verdammt», knurrte Fulrad und rief: «Eine Untiefe? Sollen wir an Steuer- oder Backbord daran vorbeifahren?»
    Das Lot plumpste erneut ins Wasser. Dann herrschte einen Augenblick gespannte Stille, bis der Lotse Entwarnung gab. «Wir haben wieder einen Faden unter dem Kiel!»
    Fulrad stieß einen Seufzer aus. «Es wird wieder tiefer – rudert!»
    Die Riemen tauchten ab.
    Geirmund schnappte vernehmlich nach Luft.
    Aki sah, wie sich ein Mann auf einer Ruderbank umdrehte und Geirmund mit einem hämischen Grinsen bedachte. Es war der Weinhändler. Kein Wunder, dass der Mann den Sklavenhändlern alle erdenklichen

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