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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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aufgetürmt worden war. Aki war sich zwar sicher, dass er das Gras bereits durchsucht hatte, aber Asny meinte, er solle es noch einmal versuchen, und tatsächlich fand er dort den schönsten Bernstein, einen faustgroßen Raf.
    Er hatte seine Schwester nie gefragt, ob sie den Stein dort hingelegt hatte. Aber wenn wir uns wiedersehen, dachte er jetzt, werde ich das nachholen.
    Eine Böe trieb kühlen Wind über den Klosterhof und kräuselte das Wasser in den Pfützen. Aus einem Gebäude, das man Dormitorium nannte, sah Aki drei Mönche in grauen Kutten kommen.
    Auch Aki hatte man eine Kutte gegeben. Bislang hatte er es jedoch nicht übers Herz gebracht, die Christenkleidung anzuziehen. Er fühlte sich unwohl im Kloster unter all den Christen mit ihren merkwürdigen Bräuchen. Damals, im Wald, hatte Aki sich darauf gefreut, eines Tages in Ketils Kloster zu kommen und die vielen Bücher zu lesen, von denen der Mönch ihm erzählt hatte. Nun war all das überschattet von der Sorge um Asny.
    Vier Tage war Aki schon im Kloster. Vier Tage, die er verloren hatte und an denen er voller Ungeduld darauf wartete, eine Audienz, wie Ketil das nannte, beim Erzbischof Brun zu bekommen.
    Jeden Tag hatte Ketil ihn aufs Neue vertröstet. Herr Brun sei sehr beschäftigt, er müsse sich um dieses und jenes kümmern. Aki konnte es nicht mehr hören. Obwohl er wusste, wie sehr Ketil sich bemühte, wurde er immer unruhiger, und er war wütend auf Ketil, der so sehr von diesem Herrn Brun geschwärmt hatte.
    Aki wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er auf dem Gang des Gästehauses Schritte hörte. Ohne Klopfen wurde die Tür geöffnet.
    Ketil trat mit einem breiten Grinsen ein. «Zieh dich an, Junge!»
    «Ich trage bereits meine Sachen.»
    «Das nennst du angezogen? Diese alten Kleider?»
    «Ja, und? Ich habe sie ausgebessert.»
    Man hatte ihm eine Knochennadel und einen Faden gegeben, womit er Löcher und Risse zugenäht hatte.
    «Heute musst du gut aussehen», sagte Ketil.
    Er streckte den Rücken durch und wölbte die Brust unter seiner frisch gewaschenen Kutte. Gleichzeitig zog er den Kopf ein, um nicht gegen die Decke zu stoßen. «Und zwar so gut wie ich!»
    Aki sprang auf. «Bedeutet das etwa …»
    «Ja, mein Freund, das bedeutet es.»
     
    Ein grimmig dreinblickender Soldat mit einer schiefen Nase versperrte ihnen den Weg zu einer Hütte, die sich im Schatten des Kirchenbauwerks versteckte.
    «Haut ab!», nuschelte der Soldat.
    Als jedoch weder Ketil noch Aki Anstalten machten, sich zu entfernen, näherten sich weitere Männer. Sie gehörten zur Leibgarde des Erzbischofs und waren mit Lanzen und Schwertern bewaffnet.
    Ketil beugte sich zu Aki hinunter und flüsterte ihm ins Ohr, alles Weitere ihm zu überlassen. «Vertrau mir. Wir haben nur diese eine Gelegenheit.»
    Dann richtete er sich zur vollen Größe auf, schaute auf den Mann herab und sagte: «Wir haben eine Audienz beim Erzbischof von Colonia.»
    Der Soldat versuchte sich an einem überheblichen Grinsen. «Kannst du das beweisen, Mönch?»
    Ketil senkte den Blick auf seine rechte Hand, betrachtete kurz seine Fingernägel und ballte die Hand dann wie beiläufig zur Faust.
    «Du wolltest mich schon einmal aufhalten, Soldat. Vor einigen Tagen im Capitolstempel. Vielleicht erinnerst du dich daran.»
    Der Blick des Mannes flackerte. «Befehl ist Befehl.»
    «Und Audienz ist Audienz.» Ketil schien dieses Wort zu lieben.
    «Wir lassen niemanden …»
    Der Soldat verstummte, als Ketil einen Schritt auf ihn zu machte.
    «Richte meinem Herrn Brun aus, dass Ketil da ist.»
    Die Soldaten wechselten einige Worte. Dann ging einer von ihnen zur Hütte und klopfte an. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Ein stämmiger Mann in der Rüstung eines hochrangigen sächsischen Kriegers, offenbar ein Feldherr, erschien. Als er den Kopf drehte, sah Aki, dass ihm das linke Ohr fehlte. Vernarbtes Gewebe wucherte um ein kleines schwarzes Loch. Er hörte zu, was der Soldat zu sagen hatte, überlegte kurz und winkte dann Ketil und Aki zu sich.
    Als Ketil an dem Soldaten mit der schiefen Nase vorbeikam, ließ er ein bedrohliches Knurren hören. Der Soldat zuckte zusammen, als habe man ihm Eiswasser in den Nacken gekippt.
     
    Aki konnte kaum glauben, dass sich der Erzbischof in einem Lagerschuppen aufhalten sollte. Die Wände und das Dach der Hütte waren aus einfachen Brettern gezimmert. In der Mitte des einzigen, mit Baumaterialien und Werkzeugen vollgestellten Raums stand ein Tisch, an dem ein

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