Das Lied des Todes
an Tischen und Bänken vorbei, umrundete die Tafel und ging weiter zu einer Gruppe Mönche. Sie schienen auf etwas zu warten. Einer der Mönche schaute ihn fragend an und sagte etwas. Hakon nickte unter seiner Kapuze, woraufhin sich der Mönch schulterzuckend abwandte.
Hakon war nun hinter dem Grafen. Das zu einem Zopf gebundene, dunkelblonde Haar fiel über den kräftigen Nacken und die Schultern auf den blutroten Umhang. Der Graf saß still, den Oberkörper gestreckt, die Hände auf dem Tisch abgelegt. Er wirkte angespannt. Die anderen Männer an der Tafel unterhielten sich, doch der Graf redete mit niemandem.
Hakons Finger schlossen sich fester um das Messer. Der Griff war aus Hirschgeweih, rau und fest. Seine Hand würde nicht abrutschen, auch wenn er schwitzen sollte.
Er wartete. Irgendetwas würde gleich geschehen. Irgendetwas, das die Menschen im Saal ablenkte und Hakon die Möglichkeit gab, sich seiner Beute zu nähern. Um zuzustoßen. Den Kopf des Grafen mit der linken Hand packen, nach hinten ziehen und dann die Klinge über die Kehle fahren lassen. Ein Schnitt. Ein einziger Schnitt. Für einen zweiten würde Hakon keine Gelegenheit bekommen, das wusste er.
Nur dieser eine Schnitt.
Was danach kam, lag nicht in seiner Macht. Auch nicht in der Macht der Götter. Sie hatten ihn den weiten Weg hergeführt. Sie hatten ihn überleben lassen. Sie hatten ihm die Slawin an die Seite gestellt. Damit er seinen Schwur einlöste.
Nur das. Was dann kam, war unwichtig.
Hakons Herz schlug gleichmäßig. Er spürte, wie sich die Ruhe des geübten Jägers in seinem Körper ausbreitete.
Er dachte an den Tempel in den Bergen von Hladir. Thorgerd Hölgabrud, ihre Schwester Irpa und Thor, der mächtige Thor. Der Graf hatte die Bildnisse zerstört, hatte sie zerschlagen. Aber die Menschen von Hladir würden den Göttern neue Statuen bauen, die noch herrlicher und noch mächtiger waren. Der Graf hatte sich an den Göttern vergangen, und nun nahmen sie Rache durch ihn, durch Hakon. Er war ihr Arm, ihre Hand, ihr Messer, und sie würden das Blut bekommen, nach dem sie dürsteten.
Die Götter waren bei Hakon, die ganze Zeit. Sie würden bei ihm sein, wenn man ihn tötete. Denn das würden sie tun, die Soldaten, die den Saal bewachten. Sie würden ihn töten, weil er einen der Ihren tötete.
So war es eingerichtet in der Welt.
Ein Horn wurde geblasen. Durchdringend hallte der Ton von den Wänden wider. Die Menschen richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Eingang, in dem ein Mann, eine Frau und ein Knabe erschienen. Alle Gespräche verstummten. Die Menschen an den Tischen erhoben sich. Bedienstete, die eben noch umhergeeilt waren, blieben stehen.
Dann trat der König – es konnte nur der König sein – in den Saal und ging vorweg zur Tafel. Er war von kräftiger Statur und trug einen purpurfarbenen Umhang. Die Lippen im grauen Bart waren zusammengepresst, die schmalen Augen blickten ernst drein. Ihm folgten seine blasse Frau und der Knabe, dessen Wangen so rot leuchteten wie sein Haar.
Die Menschen senkten ihre Häupter, auch Hakon. Erst als sich die Herrscher auf ihren Stühlen niedergelassen hatten, schaute er wie alle anderen wieder auf. Die Gäste nahmen ihre Plätze wieder ein.
Hakon sah, wie sich ein Mann in einem blauen Mantel zum König beugte und eifrig nickte, als der König etwas sagte. Es war der Mann, der beim Seiteneingang mit dem Hauptmann des Grafen geredet hatte. Der Mann erhob sich wieder und schnippte in Richtung der Küche mit den Fingern, woraufhin mit Krügen beladene Diener ausschwärmten und die Becher der Gäste mit Wein füllten.
Als der Graf an der Reihe war, machte Hakon einen Schritt nach vorn. Dann begannen die Mönche zu singen.
Du Gott der Rache, o Herr, du Gott der Rache, leuchte hervor! Erhebe dich, du Richter der Erde, gib den Hochmütigen ihren Lohn!
Thankmar fand, dass man den Psalm nicht besser hätte wählen können.
Und er lässt ihr Unrecht auf sie selber zurückfallen,
sangen die Mönche,
und er wird sie durch ihre Bosheit vertilgen, der Herr, unser Gott, wird sie vertilgen.
Vertilgen, dachte Thankmar und schaute zum König. Vertilgen wird Gott dich für das Unrecht an meiner Familie, für deinen Verrat. Du lässt dich preisen als den geweihten Heilsbringer. Gott aber hat meinen Vater erwählt, und nun werde ich sein Erbe antreten.
Er dachte an die Urkunde, die er unter seinem Hemd aufbewahrte. Sie würde in wenigen Augenblicken den Menschen die Wahrheit offenbaren,
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