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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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Geschehnisse um sich herum nur noch wie im Traum wahr. Er sah die Augen des Kanzlers fast aus den Höhlen quellen. Hörte ihn etwas zum König sagen. Hörte die gequälten Schreie an der Tafel und die Geräusche aus dem Saal, das Brüllen des riesigen Mönchs, der zusammen mit dem Blonden von den Soldaten eingekreist worden war.
    Und dann sah Thankmar den König nach Soldaten rufen und auf ihn, Thankmar, zeigen.
    Er sprang auf, prallte gegen einen Mann, der hinter ihm stand, kam kurz ins Wanken, fing sich wieder, rannte auf den König zu – und in seinem Innern begann sich die Seherin zu regen.

72.
    Hakon fand sich auf dem Boden wieder. Er hatte nicht schnell genug reagiert. Der Zusammenprall mit dem Grafen war zu überraschend gekommen. Es hatte ihn von den Beinen gerissen.
    Neben ihm wälzte sich ein Mann in einem purpurfarbenen Mantel in seinem Erbrochenen. Er hatte seinen Hut verloren. Es war ein merkwürdiger Hut mit einer breiten Krempe, an der Schnüre befestigt waren. Der Mann stöhnte und würgte und übergab sich erneut. Ein beißender Gestank breitete sich aus.
    Hakon kam auf die Knie, dann auf die Füße. Der Graf hatte seine Schritte verlangsamt und näherte sich dem König.
    Das Messer! Verdammt, wo war das Messer? Hakon hatte es beim Sturz verloren. Er schaute sich um und entdeckte es vor dem röchelnden Purpurmantel in dessen Erbrochenem. Hakon bückte sich danach. Doch als er es nehmen wollte, griff der Mann nach Hakon. Zarte Finger legten sich um sein Handgelenk. Sie waren weich wie die eines Mannes, der keine körperliche Arbeit kannte. Dennoch war der Griff fest. Hakon trat nach dem Mann und traf ihn im Gesicht. Die Finger lösten sich. Hakon nahm das Messer, wischte es am Purpurmantel ab und erhob sich.
    «Hilf mir!», stöhnte der Mann. Sein Gesicht hatte die Farbe eines gekochten Krebses angenommen.
    «Hilf mir!», stöhnte er wieder, begleitet von einem würgenden Geräusch. Dann spuckte er den restlichen Inhalt seines Magens Hakon vor die Füße.
    Hakon sah den Graf beim König stehen, der von seinem Stuhl aufgesprungen war. Die Frau hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und stieß spitze Schreie aus.
    Der Graf schien unschlüssig zu sein, was er tun sollte. Er war unbewaffnet, und von allen Seiten näherten sich Soldaten. Sein Gesicht war zu einer dämonischen Fratze verzerrt, als ob in seinem Innern ein Kampf tobte, der ihm die allergrößte Pein bereitete.
    Hakon wollte dem Grafen nacheilen, musste jedoch feststellen, dass sich mehrere Soldaten zwischen ihn und den Grafen gedrängt hatten. Er ließ das Messer unter seinem Ärmel verschwinden.
    «Du verdammter Bastard!», hörte er den König in der Sprache der Sachsen rufen.
    Die schmalen Augen des Königs weiteten sich vor Schreck, als er sah, dass der Graf den Knaben vom Stuhl gerissen hatte. Die blasse Frau schrie und schrie. Die Soldaten, die inzwischen einen Ring um den Grafen gezogen hatten, senkten ihre Schwerter und Lanzen.
    Der Graf schlang dem Knaben den linken Arm um den Hals, grub die Finger seiner rechten Hand in die roten Locken und packte den Kopf so, dass er dem Jungen mit einer einzigen kräftigen Bewegung das Genick brechen konnte.
    Offenbar zweifelte niemand im Saal daran, dass er dies auch tun würde.
    Der Knabe zitterte vor Angst. Tränen rannen über seine roten Wangen.
    Der Graf schien sich wieder gefangen zu haben. Seine Züge hatten sich geglättet. Die Verzweiflung war aus dem Gesicht gewichen.
    «Ich, ein Bastard?», entgegnete er ruhig. «Meine Großmutter war die erste Gemahlin des Königs Heinrich. Mein Vater war der Erstgeborene und somit der rechtmäßige Thronerbe. Nun werde ich das Erbe meines Vaters antreten.»
    «Nein, Heinrich hat mir das Erbe angetragen», sagte der König mit gepresster Stimme. «Die Fürsten haben mich gewählt, und ich bin gekürt worden vor Gott und dem Volk.»
    Es war nicht zu übersehen, wie die Wut in ihm arbeitete. Es schien ihn große Mühe zu kosten, sich zu beherrschen. «Lasst den Jungen los, Thankmar. Wir werden diese Angelegenheit unter uns klären.»
    Der Graf schüttelte den Kopf. «Für wie dumm haltet Ihr mich, Onkel? Sobald Ihr Euren Sohn habt, bin ich ein toter Mann …»
    «Ich gebe Euch mein Wort! Euer Leben gegen das Leben meines Sohns.»
    «Euer Wort? Euer Wort ist weniger wert als der Dreck, der einem Schwein aus dem Arsch fällt.»
    Der König stand ganz still. Nur seine Nasenflügel bebten.
    Aus dem Saal waren die meisten Menschen näher gekommen.

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