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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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richtete den Blick wieder auf den Grafen, der mit gestrecktem Rücken an der Tafel saß, nicht weit entfernt von den Plätzen der Herrscher. Auf seinem Gesicht lag ein undurchdringlicher Ausdruck. Er lächelte, aber seine Augen waren kalt.
    «Das ist das gefährlichste Tier der Welt», raunte Ketil. «Ein Löwe. Diese Raubtiere leben in Ländern jenseits des mittelländischen Meeres.»
    «Aha», meinte Aki ohne Begeisterung.
    «Woher will ein Mönch wissen, was ein Löwe ist?», fragte ein Mann mit geflochtenen Bartzöpfen und harten Gesichtszügen, der Ketil gegenübersaß.
    Ketil richtete sich zur vollen Größe auf, was den Mann veranlasste, auf der Bank ein Stück zurückzuweichen.
    «Weil ich gegen einen gekämpft habe», hörte Aki Ketil sagen. «Er hatte Zähne, die so scharf waren wie Messerklingen und lang wie meine Finger.»
    Ketils Hände klatschten so hart auf den Tisch, dass die noch leeren Schalen und Löffel klapperten.
    «Du hast gegen einen Löwen gekämpft?», fragte ein anderer Mann ungläubig.
    «Das habe ich …»
    Plötzlich erhob sich Thankmar von der Tafel und ging zu einem Mann, der bei einem Kamin stand und auf ihn zu warten schien. Aki war dieser Mann in dem hellblauen Mantel bereits vorhin aufgefallen. Er war aus dem Durchgang gekommen, der in die Küche führte. Und es war derselbe Mann, den er in der vergangenen Nacht beim Zelt des Grafen gesehen hatte.
    «Es war der Atem des Todes, der mir entgegenschlug», erzählte Ketil. «Er stank nach dem Blut Hunderter Männer, die er getötet und gefressen hatte. Ich lag unter ihm, schaute direkt in seinen aufgerissenen Rachen. Dampfender Speichel tropfte auf mein Gesicht …»
    Ein Raunen wanderte um den Tisch.
    Thankmar und der andere Mann zogen sich in die Nische hinter dem Kamin zurück. Aki lehnte sich auf der Bank ein wenig zurück, um den Blickwinkel zu verändern. Er sah, wie Thankmar etwas hervorzog und es dem Blaumantel reichte, der es sofort unter seinem Hemd verschwinden ließ.
    «Seine Zähne schnappten nach meinem Hals. Aber im letzten Moment gelang es mir, die Mähne zu packen und dann …»
    Ketil nahm einen Holzlöffel und brach den Stiel mit einem Krachen in zwei Teile.
    «Und dann hat sein Genick genau dieses Geräusch gemacht. Nur noch viel lauter natürlich.»
    «Er hat dem Löwen das Genick gebrochen», hauchte der Mann mit dem Zopfbart und sah nicht so aus, als würde er an Ketils Worten zweifeln.
    Das taten die anderen offenbar auch nicht. Die Männer sprangen auf und applaudierten begeistert.
    Ketil wandte sich an Aki. Sein Gesicht glühte vor Stolz.
    «Hast du diesen Mann schon mal gesehen?», fragte Aki. «Den da vorne, beim Grafen.»
    «Habe ich was?» Ketil schaute ihn überrascht an. «Hast du nicht zugehört, wie ich den Löwen …»
    «Der Mann in dem blauen Mantel.»
    Ketil schüttelte ernüchtert den Kopf. Er fragte den Zopfbart nach dem Blaumantel.
    «Das ist Graf Barthold von Hildenisheim», antwortete er. «Er ist der Truchsess. Sag, Mönch, kannst du uns nicht noch eine Geschichte erzählen, während wir aufs Essen warten?»
    «Was ist ein Truchsess?», wollte Aki wissen.
    «So nennt man einen Adligen, der beim Festmahl die Rolle eines Bediensteten übernimmt und die Aufsicht über die königliche Tafel hat. Damit erweist er dem König seine Ehrerbietung.»
    «Eine Geschichte! Bitte!», rief jemand.
    «Gleich», erwiderte Ketil und beugte sich zu Aki hinunter. «Was ist mit dem Mann?»
    «Der Graf hat ihm etwas zugesteckt.»
    «Und was?»
    «Es ging zu schnell.»
    «Denkst du, es könnte wichtig sein?»
    Aki zuckte mit den Schultern.
    «Ich glaube», sagte Ketil, «wir müssen uns keine allzu großen Sorgen machen. Schau doch!»
    Er zeigte zum Erzbischof, der von seinem Platz aufgestanden war und in Richtung Kamin starrte. Dort hatten der Graf und der Blaumantel ihr Gespräch beendet. Als Thankmar zur Tafel zurückkehrte, ließ der Erzbischof sich wieder nieder.
    «Herr Brun hat alles unter Kontrolle», sagte Ketil und atmete tief durch die Nase ein. «Lass uns einen Moment innehalten, mein Freund, und Kräfte sammeln. Gleich kommt das Essen. Ich rieche Gebratenes. Geflügel, Fleisch, Fisch …»
    Der Blaumantel hielt zielstrebig auf die Küchentür zu.
    «Du hast uns eine Geschichte versprochen, Mönch», bat der Zopfbart.
    «Mhm», machte Ketil, richtete sich auf, verschränkte die Hände und ließ die Fingergelenke krachen. «In den fernen Ländern gibt es Schlangen, die können einen ausgewachsenen

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