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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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waren die einzigen Geräusche, die Aki in der längsten Nacht seines Lebens gehört hatte.
    Und das Weinen seiner Schwestern.
    Akis Tränen waren versiegt. Irgendwann hatte er einfach aufgehört zu weinen, obwohl er noch niemals so verzweifelt gewesen war.
    In dem Loch hatte er versucht zu begreifen, was geschehen war. Gerade erst ein Tag war vergangen, seit er vor Grim geflohen und vor dem Haus auf die Soldaten mit den roten Mänteln gestoßen war. Sie hatten Aki gefangen genommen und mit den anderen in die Kirche der christlichen Gemeinde von Haithabu gesperrt. Da hatte Aki noch geglaubt, dass alles nur ein Irrtum wäre und man sie bald wieder freilassen würde. Schon deshalb, weil Velva ihren Kindern Mut zugesprochen hatte. Es gebe genug Menschen in der Stadt, die zu ihnen hielten, hatte sie gesagt. Menschen, die verhindern würden, dass die bösen Männer ihnen etwas Schlimmes antun würden.
    Doch niemand war gekommen, um ihnen zu helfen.
    Stattdessen waren am Abend der Markgraf und der Bischof erschienen und hatten Aki und seine Familie ins Versammlungshaus gebracht. Dort hatte Aki zum ersten Mal den König gesehen. Auch das hatte ihm Hoffnung gemacht, denn er hatte gehört, dass der König die Sachsen hasste. Warum also sollte der König der Dänen erlauben, dass die bösen Sachsen ihnen etwas antun würden?
    Aber er hatte es trotzdem zugelassen!
    Er hatte zugelassen, dass der Bischof Velva zwang, ihre Arme in kochendes Wasser zu tauchen.
    Niemals würde Aki den Schrei seiner Mutter vergessen. Niemals würde er den Anblick und den Geruch ihres verbrühten Fleisches vergessen. Und niemals würde er das Grinsen des Grafen vergessen, als der König sein Urteil über Velva und ihre Kinder sprach.
    Auch die Blutmäntel grinsten, als sie an diesem Morgen die Bretter von der Grube nahmen. Einer der Soldaten sprang zu ihnen hinunter, holte zunächst die Kinder und zum Schluss die schwerverletzte Velva aus dem Loch. Wie totes Vieh warf man sie auf die Ladefläche eines Karrens, und nun rollten sie durch die Gassen zum Hafen hinunter, von einem Ochsen gezogen und einem halben Dutzend Soldaten eskortiert.
    Bei jedem Stein, über den sie fuhren, wackelte der Karren, und die Gefangenen wurden hin und her geworfen.
    Voller Mitleid schaute Aki zu seiner Mutter, die den Kindern gegenübersaß. Sie hatte ihre Arme angewinkelt, damit das offene Fleisch nicht mit der Ladefläche in Berührung kam. Da sie sich mit ihren verbrannten Händen jedoch nicht festhalten konnte, stießen ihre Arme immer wieder gegen den Holzboden, wobei sich ihr Gesicht jedes Mal vor Schmerzen verzog.
    Aber über ihre Lippen kam kein einziger Laut der Klage.
    Aki dachte, es müsse sie eine nahezu übermenschliche Überwindung kosten, diese Schmerzen still zu ertragen. Vielleicht wollte sie den bösen Männern den Triumph nicht gönnen. Vielleicht waren es aber auch die Götter, die ihr diese Kraft gaben.
    Es hatte Aki das Herz gebrochen, als er gestern mit ansehen musste, wie ihre Hände und Arme ins kochende Wasser eintauchten, und er hasste sich dafür, dass er nicht alles versucht hatte, um ihr diese Qualen zu ersparen. Hätte es die Möglichkeit gegeben, dann hätte er lieber selbst in den Kessel gegriffen, als seine Mutter so leiden zu sehen. Auch wenn Velva das natürlich niemals zugelassen hätte. Sie hatte sich immer vor ihre Kinder gestellt. Aki erinnerte sich daran, wie sie vor einigen Jahren zum Sklavenhändler Geirmund gegangen war, nachdem Grim Aki die Nase gebrochen hatte. Aki wollte sie aufhalten, denn er wusste, wie gewalttätig Geirmund war. Aber Velva ging trotzdem. Ohne dass sie es bemerkte, war Aki ihr gefolgt und wurde Zeuge, wie sie den zwei Köpfe größeren Geirmund anschrie. Sie drohte ihm mit der Strafe der Götter, sollte Grim sich noch einmal über Aki hermachen. Und was hatte Geirmund gemacht? Er hatte die Faust gehoben, um sie Velva ins Gesicht zu schlagen, sich dann jedoch einfach umgedreht und die Tür vor ihr zugeknallt. Seither hatte Aki seiner Mutter nichts mehr von Grims Nachstellungen erzählt, damit sie sich nicht wieder in eine solche Gefahr begab.
    Grim hatte Aki tatsächlich in Ruhe gelassen, allerdings nur einen Sommer lang. Es war ein schöner Sommer.
    Wieder rumpelte der Karren über einen Stein. Velva bekam einen heftigen Stoß, und ihr linker Arm knallte auf die Ladefläche. Sie kniff die Augen zusammen und presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie nur noch ein dünner Strich waren. Ihr Gesicht war eine

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