Das Lied des Todes
geschah – die Seherin und ihre Brut mussten vernichtet werden!
Er forderte Poppo auf, umgehend die Predigt zu unterbrechen. Wütend trat der Bischof den Stein ins Hafenbecken.
Thankmar eilte zum Käfig. Dabei sah er, dass auch der König und die Stammesfürsten an seiner Seite unruhig wurden. Unter ihnen war auch Jarl Storolf, der den Grafen feindselig anstarrte.
Als Thankmar das aus kräftigen Haselstangen gebaute Gestell erreichte, befahl er: «Sperr das Weib hinein!»
Ernust packte die Seherin im Genick, um sie in die Knie zu zwingen und in den geöffneten Käfig zu schieben.
Da ging völlig unerwartet ein Beben durch den zierlichen Körper, und wie eine Schlange drehte sich die Seherin aus Ernusts Griff. Der Hauptmann war so überrascht, dass er stolperte und hinfiel. Die Seherin machte mit den Schultern eine ruckartige Bewegung, sodass der Mantel von ihrem Körper glitt und ihre tätowierte Haut vor den Augen aller entblößte.
Ehe Thankmar sichs versah, sprang das Weib auf ihn zu und reckte ihm ihre verbrannten, klauenartigen Hände entgegen. Ihre Lippen öffneten sich, und aus ihrem Mund quoll ein schriller, eigenartig schräger Singsang, der Thankmar das Blut in den Adern gefrieren ließ.
«Sie werden dir die Brust zerbrechen, dass giftige Nattern dein Herz zernagen, dass deine Ohren für immer ertauben und deine Augen aus deinem Schädel springen …»
Wie eine höllische Feuersbrunst brausten die Worte in Thankmars Ohren. Von Panik ergriffen, schlug er nach dem fratzenhaften Gesicht.
Die Seherin duckte sich geschickt unter dem Hieb weg und schrie: «Trolle, Alben und Zaubernornen, Bauern und Bergriesen sollen deine Hallen niederbrennen! Riesen sollen dich hassen, Pferde dich treten. Stroh soll dich stechen, Stürme dich betäuben …»
Thankmars nächster Faustschlag traf sie seitlich an der Schläfe.
Sie taumelte rückwärts.
Ernust, der sich wieder berappelt hatte, packte sie an den verbrannten Armen, zerrte sie zum Käfig und schubste sie hinein.
«Ins Wasser mit ihr!», brüllte Thankmar. «Werft endlich den verdammten Käfig rein!»
Blankes Entsetzen hatte ihn gepackt. Er war so außer sich, dass er den Schmerz in seinem rechten Bein zunächst gar nicht wahrnahm. Erst als er Ernust dabei helfen wollte, den Käfig von der Brücke zu schieben, bemerkte er, dass er von einem Stein getroffen worden war.
Er wirbelte herum und wurde starr vor Entsetzen. Er glaubte, in die Pforte der Hölle zu blicken. Von allen Seiten flogen Steine wie Geschosse heran. Sie regneten auf die Brücke nieder, und die Luft war erfüllt von dumpfen pochenden Geräuschen.
Sofort eilten dänische Krieger herbei, um ihren König mit Schilden zu beschützen. Die anderen suchten Schutz unter ihren eigenen Schilden oder hinter Haralds Stuhl.
Der Hagelschauer aus Steinen schwoll an.
Thankmar nahm einem Soldaten den Helm ab und setzte ihn auf seinen bandagierten Kopf. Da traf ein Stein den Soldaten an der Stirn. Nur einen Wimpernschlag später prallte ein Stein gegen Thankmars Helm. Der Schlag dröhnte in seinem Schädel, als wären alle Wunden, die der Rabe gerissen hatte, wieder aufgeplatzt.
Thankmar lief zu Ernust. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, den Käfig an den Rand der Brücke zu schieben. Das Gestell wankte, kippte hinunter und fiel ins dunkle Wasser.
Und versank.
Das Tau wickelte sich ab, bis es sich knirschend spannte und den Käfig unter Wasser festhielt. Allmählich wurden die Wellen kleiner. Luftblasen stiegen auf und glitzerten wie Perlen an einer Kette, bevor sie an der Oberfläche zerplatzten.
Der Steinhagel ebbte ab.
Es dauerte einen Augenblick, bis Thankmar wieder zu Atem kam. Seine Finger zitterten, als er nach seinem Talisman greifen wollte. Doch da war nur das Kruzifix. Dieses nutzlose Kruzifix!
Thankmar schaute zu den Menschen im Hafen und sah ihre hasserfüllten Gesichter. Am Fuß der Brücke war es zu Rangeleien gekommen. Aber den Blutmänteln und den dänischen Kriegern gelang es, die Menge auf Abstand zu halten.
Thankmar fühlte sich wie im Fieberwahn. Es war jedoch nicht die Angst vor weiteren Steinen, die ihm das Bewusstsein zu rauben drohte. Es war die Erkenntnis dessen, was soeben geschehen war.
Die Seherin hatte ihn verflucht!
Die Brücke war mit Steinen übersät. Über dem Hafengelände hatte sich eine gespenstische Ruhe ausgebreitet. Eine trügerische Ruhe. Hunderte Augenpaare starrten Thankmar an, und die Blicke schienen ihn zu durchbohren wie Schwertklingen.
Als
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