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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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zurückkehren …»
    «Dafür ist es zu spät!», keifte Poppo.
    Harald überging den Einwurf. «Du hast meine Frage nicht beantwortet, Seherin. Hast du dem Normannen Sigurd geholfen, den Markgrafen zu töten?»
    Velvas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. «Ihr habt Euch zum Vasallen des Sachsenkönigs gemacht, König Harald.»
    «Genug!», schrie Poppo. «Es steht jetzt allein in Gottes Macht, über Schuld und Unschuld zu urteilen.»
    Die Seherin fuhr zum Bischof herum. Ihre Blicke schienen Feuer zu sprühen.
    «Lasst meine Kinder frei», zischte sie. «Wenn Ihr mir das zusagt, werde ich mich dem Urteil Eures Gottes stellen.»
    Poppo schaute von der Seherin zu den Kindern, die sich angsterfüllt aneinanderdrängten, dann wieder zurück zur Seherin. «Wir werden sehen», meinte er ausweichend.
    Inzwischen waren einige Dänen aufgesprungen und forderten, von Storolf angestachelt, die Verhandlung zu unterbrechen.
    Harald sah offenbar Ärger aufkommen und hielt Poppo dazu an, endlich anzufangen, bevor der Streit im Saal eskalierte.
    Da wies der Bischof die Soldaten an, die Seherin zu entkleiden. Sie wurde ergriffen und zum Kessel gedrängt, wo man ihr die Fesseln abnahm und dann die Tunika und alle andere Sachen vom Leib zog. Als die Seherin nackt war, verstummten die Rufe der Männer. Alle Blicke richteten sich auf ihren Körper. Zwar hatten die Männer schon vorher ihr tätowiertes Gesicht gesehen, aber als im Feuerschein ihr ganzer Körper wie der eines Dämons schimmerte, verschlug es ihnen die Sprache. Den Rücken der Seherin zierte eine große Sonne; Beine, Arme und Unterleib, ja sogar die Brüste und das Geschlecht waren mit Wellenmustern, mit Ornamenten von Schlangen, Vögeln und Drachen bedeckt.
    Auch Thankmar war von dem Anblick ergriffen. So etwas hatte er noch nie gesehen.
    «Los jetzt», flüsterte er Poppo zu, «bevor sich die Stimmung vollends gegen uns wendet!»
    Poppo nickte. Er nahm das Kruzifix vom Hals und ließ es in den brodelnden Kessel fallen.
    «Wer reinen Geistes ist», rief er, «dem führt Gott die Hand. Sollte das Weib unschuldig sein, so wird es das Kreuz wieder herausholen, ohne eine Verletzung davonzutragen.»
    Mit versteinerter Miene wandte er sich an die Seherin. «Gib mir das Kreuz wieder, und Gott lässt dich und deine Kinder unbehelligt.»
    Über sein Gesicht huschte ein Lächeln, das aber nur Thankmar bemerkte. In diesem Augenblick glaubte er, einen tiefen Blick ins Innere des Bischofs zu bekommen: Der Mann war wahnsinnig.
    «Mach schon», zischte Poppo, «hol es raus.»
    Die Seherin trat an den Kessel, der nicht besonders tief war. Etwa eineinhalb Fuß hoch stand das Wasser über dem Kesselboden, auf dem das silberne Kruzifix verführerisch mit den Wasserblasen tanzte.
    «Hol es raus», wiederholte Poppo.
    Die Seherin schaute zu ihren Kindern, denen Tränen über die Wangen liefen.
    «Greif hinein, ganz schnell», flüsterte Poppo, «es ist ganz einfach.»
    Die Seherin senkte den Blick wieder auf den brodelnden Kessel, heißer Wasserdampf umhüllte sie. Von ihrer Stirn tropften Schweißperlen.
    Dann griff sie zu. Blitzschnell tauchte sie ihre Arme bis zum Ellenbogen ins Wasser.
    Ein Schmerzensschrei, der kaum noch etwas Menschliches hatte, gellte durch die Halle, in der sich atemlose Stille breitgemacht hatte. Entsetzt und fasziniert zugleich starrten die Männer auf die Arme der Seherin, die sich im kochenden Wasser bewegten, während ihre Finger nach dem Kruzifix tasteten.
    Dann verlor Velva das Bewusstsein, kippte hintenüber und blieb regungslos liegen, die verbrühten Unterarme abgewinkelt, die Hände wie Klauen ausgestreckt.
    Aus dem Kessel waren noch immer die leise klackernden Geräusche des tanzenden Kruzifixes zu hören.
    «Schuldig!», rief Poppo. «Das Weib ist schuldig!»
    Blankes Entsetzen lähmte die Dänen.
    Erst nach einer Weile schlich Harald zu seinem Stuhl zurück und bückte sich nach seinem Becher. Als er sah, dass kein Tropfen Wein mehr darin war, schleuderte er das kostbare Gefäß gegen die Wand.
    Dann wandte er sich an die Versammlung und sprach sein Urteil.

10.
    Am nächsten Morgen strich ein unangenehm kühler Nordwind durch die Gassen der Stadt.
    Aki spürte die Kälte nicht, als man ihn und seine Familie aus dem Loch holte, in dem sie die Nacht verbracht hatten. Ihr Gefängnis war eine feuchte Erdgrube, etwa fünf Fuß tief und zehn Fuß breit, die man mit Brettern zugedeckt hatte. Die Schritte von Soldatenstiefeln auf den knarrenden Brettern

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