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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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sie das letzte Licht einfingen.
    Was für eine Pracht!
    Ein behagliches Gefühl durchflutete ihn. Er war überzeugt, dass der Tag kommen würde, an dem er noch viel mehr Schätze besaß. Er würde der reichste und der mächtigste Mann der Welt sein. Er würde über die Sachsen und über alle anderen Völker herrschen. Seinen Onkel Otto würde er zerquetschen wie eine Laus, und dann würde er dessen goldene Lanze tragen. Dem Dänenkönig würde er den Hals aufschlitzen und sich mit seiner Kette schmücken.
    Während sich Thankmar am Glanz der Kostbarkeiten weidete, spürte er urplötzlich die Angst zurückkehren. Mit eiserner Faust ergriff sie sein Herz, als sei der Geist der Unterwelt durchs offene Fenster in die Kammer gefahren.
    Seine hochtrabenden Gedanken fielen in sich zusammen.
    Und dann waren sie wieder da, die Worte der Seherin. Gnadenlos drängten sie in sein Bewusstsein. Er zitterte, als er Gold und Silber zurück in die Truhe warf, den Deckel zuklappte und verschloss.
    Draußen lachten die Soldaten. Vielleicht hatte einer von ihnen einen Scherz gemacht. Vielleicht über Thankmar, ihren Herrn …
    Aus den Erfahrungen der vergangenen Tage wusste er, dass das lähmende Angstgefühl immer einige Augenblicke lang aufwallte und dann allmählich wieder abebbte. Bis zum nächsten Anfall.
    Doch dieses Mal schien es schlimmer zu werden.
    Seine Knie knickten ein, und er sank nieder wie ein Büßer. Vor seinem geistigen Auge tauchte die Seherin auf, nackt wie die Hure des Satans, das Gesicht zur teuflischen Fratze verzerrt. Die Tätowierungen auf ihrem Körper wurden lebendig, lösten sich pulsierend von ihrer Haut. Schlangen und Drachen schnellten auf Thankmar zu, um ihre langen, spitzen Zähne in sein Fleisch zu schlagen.
    Und die Seherin sang ihr Lied.
    Sie werden dir die Brust zerbrechen, dass giftige Nattern dein Herz zernagen!
    «Geht weg!», stieß Thankmar aus. «Verschwindet – Dämonen der Hölle!»
    Er presste die Lippen aufeinander, damit die Soldaten ihn nicht hörten. Niemand durfte wissen, wie angreifbar er in diesen Momenten war.
    Da vernahm er wie aus weiter Ferne ein Klopfen. Er hörte eine Stimme, die nach ihm rief und wissen wollte, ob etwas geschehen sei.
    «Alles … alles bestens», gab er keuchend zurück.
    Er rollte sich vor der Truhe zusammen wie ein Kind im Schoß seiner Mutter, während eine weitere Woge der Finsternis die schlimmsten Erinnerungen aus den Tiefen seiner Seele hervorspülte …
    Er sah seinen Vater.
    Er sah, wie der Vater sich erhob, als Thankmar den Raum betrat. Der Vater kam auf ihn zu, kniete vor ihm nieder. Er hatte Tränen in den Augen; sie liefen über seine Wangen, tropften in den dichten, kurzen Bart. Nie zuvor hatte Thankmar ihn weinen sehen. Er war ein harter Hund, unerbittlich, unerschütterlich.
    Er hatte Thankmar zum Krieger erzogen.
    Das Schwert ist das Werkzeug eines Mannes, hatte der Vater gesagt. Das Töten ist sein Handwerk!
    Als Thankmar ein Kind war, holte der Vater ihn einmal aus dem Bett, obwohl Thankmar mit Fieber darniederlag. Er zerrte ihn auf den Rasenplatz im Burghof. Es war Winter, und Mutter weinte, als der Vater ihm die Kleider vom Leib riss. Nackt stand der Junge im Schnee.
    Der Vater gab ihm ein Schwert und befahl ihm zu kämpfen. Aber Thankmar war zu schwach, um die Schläge zu parieren.
    «Kämpfe!», schrie der Vater. «Du musst immer bereit sein zu kämpfen! Wenn dein Feind dich töten will, fragt er nicht, ob du krank bist oder gesund.»
    Der Vater schlug ihm das Schwert aus der Hand. Thankmar flehte ihn an, bettelte um Gnade. Doch der alte Mann warf den nackten Jungen in den Schnee, und die Mutter durfte ihm nicht helfen.
    Nach einer Weile kroch er ins Haus zurück. Als er im Bett war, wollte er nur noch eins – sterben.
    Aber er hatte seinen Vater immer geliebt.
    Auch an jenem Tag, an dem der alte Mann weinend vor ihm kniete und sagte, dass er fortgehe.
    Thankmar wollte ihn begleiten. Achtzehn Jahre war er alt, ein Mann, ein Kämpfer.
    Aber der Vater schüttelte den Kopf. Wenn er nicht selbst das vollende, wofür Gott ihn bestimmt habe, werde sein Sohn dies eines Tages tun müssen. Dies musste Thankmar ihm schwören, bei seinem Leben.
    Dann ging der Vater, um den Mann zu töten, der ihm die Krone gestohlen hatte – seinen Halbbruder Otto, Thankmars Onkel.
    Thankmar hatte seinen Vater niemals wiedergesehen. Ottos Soldaten hatten ihn auf der Eresburg getötet. Sie hatten ihn abgeschlachtet, sich mit seines Vaters königlichem Blut

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