Das Lied des Todes
schweigen: Sie hatten ihre Schwerter längst wieder in die Scheiden geschoben und stemmten sich allein mit ihren Schilden gegen die Flut der herandrängenden Menschen.
Zwischen zwei Würfen sah Hakon, wie sich der Graf unter seinen Schild geduckt wieder der Seherin näherte. Offenbar wollte er sie noch immer töten. Er schien sogar noch entschlossener dazu zu sein. Immer näher kam er der Seherin, deren Stimme bis an Hakons Ohren drang. Die Steine, die ihn an Beinen und Hüften trafen, schien der Graf nicht zu bemerken, und so erreichte er schließlich Velva. Er ließ den Schild fallen, packte die Seherin und zerrte sie zum Käfig, indem er sie zu seinem Schutz vor sich hielt.
Als Hakon dies sah, hörte er auf zu werfen, um die Seherin nicht zu verletzen. Nach und nach taten dies auch alle anderen. Bald darauf war der Steinhagel erneut verebbt, und die Menge an der Brücke kam zum Stehen.
Tatenlos mussten die Dänen mit ansehen, wie der Graf die Seherin in den Käfig zwang, ihn verschloss und mit Hilfe des Bischofs und einiger Soldaten erneut zum Brückenrand schob. Da riss sich der Sohn der Seherin von einem Bewacher los und sprang den Grafen an, der ihn jedoch mit einem Faustschlag ins Gesicht niederstreckte. Der Junge rappelte sich wieder auf, griff den Sachsen erneut an und hängte sich an dessen Beine. Immerhin erreichte der Junge damit, dass der Käfig zumindest für einen Augenblick nicht weitergeschoben werden konnte.
Hakon bewunderte den Jungen für dessen Mut. Er wollte ihm irgendwie helfen und sich gerade nach dem Raben umschauen, als der König die Schilde fortnehmen ließ und sich von seinem Stuhl erhob.
Gefolgt von den dänischen Stammesfürsten, ging er auf den Grafen zu. Der versuchte noch immer, den Jungen abzuschütteln.
Auf Befehl ihres Königs zogen die Dänen ihre Schwerter – und richteten sie auf die Sachsen, die sofort vom Käfig abließen.
Im Hafen war es still geworden, selbst der Wind schien für einen Augenblick einzuschlafen.
Als der König seine schrille Stimme erhob, war sie weithin zu hören.
«Ich, Harald Gormsson, König aller Dänen, widerrufe hiermit das Todesurteil gegen die Seherin und ihre Kinder! Das Volk soll seinen Willen bekommen!»
«Nein!», brüllte der Graf. «Ihr habt das Urteil gesprochen, und es muss vollstreckt werden. Ich bin der Herr der Mark. Hier gilt allein mein Wort. Solltet Ihr Euch weigern, die Verräterin und Mörderin zu bestrafen, werde ich
meinem
König darüber Bericht erstatten. Er wird Soldaten schicken. Hunderte! Tausende! Es wird blutige Vergeltung geben …»
Da flog ein weiterer Stein und traf den Grafen mitten ins bandagierte Gesicht. Er stieß einen heulenden Schrei aus, kippte hintenüber und blieb liegen.
Jubel brandete auf.
Hakon ließ seine Hand sinken. Einige Menschen, die bei ihm standen, hatten gesehen, dass er es gewesen war, der den letzten Stein geworfen hatte. Man klopfte ihm auf die Schultern und nickte ihm anerkennend zu.
Der König war noch nicht fertig mit seiner Rede. Er warf einen beiläufigen Blick auf den Grafen, dessen Verband sich vom Blut rot verfärbte.
«Hört mich an!», rief Harald Gormsson. «Die Seherin soll leben. Aber sie hat gemeinsame Sache mit dem Seeräuber Sigurd von Hladir gemacht und uns an die Feinde verraten. Zur Strafe wird sie aus Haithabu verbannt, ebenso wie ihre Kinder. Als Geächtete müssen sie bis zum Ende ihres Lebens in den Wäldern der Mark leben. Sie dürfen keine Siedlung und keinen Hof betreten. Niemand darf sie aufnehmen, niemand ihnen helfen oder ihnen Lebensmittel geben. Wer dies tut, macht sich ebenfalls schuldig! Wenn noch irgendjemand etwas dazu zu sagen hat, so soll er es jetzt tun!»
Es meldete sich niemand zu Wort.
13.
Thankmar schaute aus dem Fenster. Die Sonne stand über den Wäldern der Mark. Helles Licht fiel in die Kammer. Dennoch glaubte Thankmar, die ewige Finsternis strecke ihre Arme nach ihm aus, um ihn in die Hölle hinabzuziehen.
Deine Seele versinke in Qualen!
Immer wieder hallte der Fluch der Seherin in seinen Ohren wider. Wie flüssiges Eisen tropften ihre Worte in seine Seele. Die Stimme war nachts in seinen Träumen bei ihm und am helllichten Tag.
Stöhnend sank er auf die Knie, dann warf er sich auf den Boden. Er krümmte sich wie im Fieberwahn, den Kopf zwischen den Händen vergraben.
Fahr hin zur Hel, von Hunden zerfleischt!
Hätte er doch seinen Talisman! Hätte er ihn am Tag der Hinrichtung getragen, dann hätte der Fluch ihm nichts
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