Das Lied des Todes
besudelt, wie mit dem eines Opferlamms.
Viele Jahre später ritt Thankmar zu der Burg. In der Kapelle kniete er vor dem Altar nieder, auf dem sein Vater ermordet worden war – obwohl er in der Kirche unter Gottes Schutz gestanden hatte. Auf dem Altar waren noch Flecken getrockneten Blutes zu erkennen. Thankmar schnitt mit dem Messer ein Stück Holz aus der Platte und bohrte ein Loch hinein. Bei diesem Talisman, auf dem das Blut seines Vaters klebte, schwor er sich, ihn zu rächen – und an seiner Stelle das Erbe anzutreten.
Mit dem Gedanken an den verlorenen Talisman kam Thankmar wieder zu sich.
Noch immer raste sein Herz wie nach einem schnellen Lauf, als plötzlich die Fratze der Seherin vor seine Augen schwebte.
Sie schrie ihn an.
Alles werde ich dir nehmen! Alles! Niemals wirst du das Vermächtnis deines Vaters vollenden. Niemals sein Erbe antreten und den Thron besteigen.
Eine Schlange kroch zwischen ihren Brüsten hervor, wand sich glatt und kalt um Thankmars Hals und stieß ihre Giftzähne in seinen Nacken.
Und zum Schluss
, zischelte die Seherin,
nehme ich mir dein Leben!
Dann verschwand sie.
Thankmar schlug die Augen wieder auf. Es dauerte einen Augenblick, bis er wusste, wo er sich befand.
Er rappelte sich auf, um sich zum Bett zu schleppen, als ein Gedanke wie eine glühende Lanze in ihn fuhr.
Wenn die Seherin ihm alles nehmen wollte, würde sie als Erstes die Urkunde vernichten.
Thankmar war plötzlich hellwach. Warum es so war, wusste er nicht, aber mit einem Mal war er fest davon überzeugt, dass die Seherin von dem Schriftstück erfahren haben musste.
Und sie würde dafür sorgen, dass auch Otto davon erfuhr.
Vielleicht waren die Verräter längst in der Burg und warteten nur darauf, dass Thankmar endlich einschlief? Ja, ganz gewiss – noch in dieser Nacht würden sie kommen, um die Urkunde zu holen.
Er musste sie in Sicherheit bringen. Auf das Schriftstück gründeten sich seine ganzen Anstrengungen, ohne die Urkunde war alles wertlos. Sie war der Beweis, dass sein Vater der rechtmäßige Thronerbe König Heinrichs war – und somit auch Thankmar.
Er kannte die ganze Geschichte des Schriftstücks. Heinrich hatte die Urkunde einst selbst ausgestellt, um Thankmars Großmutter Hatheburg heiraten zu können. Es war ein Handel gewesen. Hatheburg, die eigentlich für das Kloster bestimmt war, hatte von Heinrich eine Sicherheit verlangt: Würde sie einen Sohn bekommen – so war es in der Urkunde festgehalten –, sollte er das Anrecht auf die Thronfolge haben. Sie gebar einen Sohn: Thankmars Vater.
Die Ehe währte nicht lange, und als Heinrich sich von Hatheburg trennte, um dieses Hurenweib Mathilde zu heiraten, wollte er die Urkunde vernichten. Doch Hatheburg ging ins Kloster, wo sie und die Urkunde vor Heinrichs Nachstellungen sicher waren.
Zwei Jahre nachdem Thankmars Vater von Otto, dem Sohn aus Heinrichs zweiter Ehe, getötet worden war, ließ die Großmutter ihren Enkel Thankmar zu sich kommen. Auf dem Sterbebett gab sie ihm die Urkunde, die sie all die Jahre aufbewahrt hatte.
Mit dem Beweis in der Hand sollte er das vollenden, was seinem Vater verwehrt worden war: der Familie die Macht zu geben, die ihr gehörte.
Als draußen erneut Stimmen zu hören waren, fuhr Thankmar zusammen.
Aber waren da wirklich nur Stimmen gewesen? Waren da nicht auch Geräusche, die klangen, als ob Schwerter aneinanderschlugen?
Er kniete vor dem Bett nieder. Mit den Händen hob er das Loch aus, in dem er die Eisenschatulle versteckt hatte. Er grub und grub, und bald hatte er die kleine Kiste freigelegt. Mit bebenden Händen öffnete er das Schloss, klappte den Deckel auf und sah, dass das Pergament darin war –
noch
darin war.
Vor der Tür lachte jemand ein wenig zu laut.
Thankmar verschloss die Schatulle wieder. Er musste sie woanders verstecken. Aber wo? Wo war sie wirklich sicher?
Der Wald, schoss es ihm durch den Kopf. Natürlich! Der Wald war riesig, und mit einem Mal fiel ihm eine Stelle ein, zu der er die Urkunde bringen musste und zwar gleich.
Er legte das Kettenhemd an, warf sich den Mantel über und gürtete das Schwert. Die Kiste steckte er in einen Lederbeutel, den er unter dem Mantel verbarg.
Jetzt fühlte er sich wieder wie ein Krieger. Kämpfe, hatte sein Vater befohlen. Kämpfe um dein Leben – und um dein Recht! Um unser Recht!
Thankmar lauschte an der Tür. Wieder lachte jemand.
Die Hand am Schwert, schob er den Riegel zur Seite und trat zum ersten Mal seit langer
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