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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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perlten von ihrem Körper ab. Die in die Haut geätzten und gestochenen Sonnen, Schlangen und Dämonen schienen sich mit Leben zu füllen. Sie schienen zu pulsieren, zu beben, zu tanzen. Wie Klauen streckte die Seherin ihre Hände, die wie Fremdkörper an den verbrannten Armen steckten, nach ihm aus. Wasser quoll aus ihrem Mund, als sie die Lippen öffnete, um den Fluch zu vollenden.
    «Fahr hin zur Hel», schrie sie, «von Hunden zerfleischt. Deine Seele versinke in Qualen!»
    Dann prasselte ein weiterer Steinhagel wie ein entfesselter Sturm auf die Brücke nieder.

12.
    Die Menschen waren von einem Zorn ergriffen worden, der einer alles vernichtenden Woge gleich durch den Hafen rollte. Weithin waren die Geräusche der auf die Bretter niedergehenden Steine zu hören.
    Hakon, der dunkle Krieger, hatte sich unter die Schaulustigen gemischt und klaubte einen Stein nach dem anderen vom Boden auf. Er zielte und warf in einer einzigen blitzschnellen Bewegung. Ob er den Grafen traf, konnte er nicht erkennen. Während ein Stein noch in der Luft war, bückte er sich bereits nach dem nächsten.
    Als die Sachsen den Käfig mit der Seherin ins Wasser geworfen hatten, waren die Menschen zunächst wie erstarrt gewesen. Alles hatte danach ausgesehen, dass der Graf gewonnen hatte. Der erste Schock war daraufhin einer allgemeinen Trauer gewichen. Die Menschen lähmte das Gefühl, der verhasste Graf triumphiere über sie. Und der Mann, der sich ihr König nannte, ließ den Sachsen gewähren! Um das Volk noch mehr zu demütigen, wollte sich der Graf auch noch an den Kindern vergehen. Hakon hatte Männer in seiner Nähe gesehen, denen Tränen in den Augen standen. Auch er selbst war tief im Innersten berührt, als er hilflos mit anschauen musste, wie die Sachsen die Kinder hinrichten wollten.
    Aber als die Seherin zu neuem Leben erwachte, brachen bei den Menschen die letzten Dämme. Sogar Frauen und Kinder bewarfen die Brücke.
    Während Hakon Stein um Stein warf, erinnerte er sich an die Begegnung mit einem Unwesen vor vielen Jahren. Damals war er etwa so alt gewesen wie der Sohn der Seherin. An dem Tag war Hakon allein in den Bergen bei Hladir, als plötzlich ein haariges Wesen den Abhang hinunter auf ihn zustürmte. Vielleicht war es ein Bär gewesen, vielleicht aber auch jene Kreatur, die ihn noch Jahre später in seinen Träumen verfolgt hatte. Die spitzen gelben Zähne und die speicheltropfenden Lefzen vor Augen, hatte Hakon nach dem Einzigen gegriffen, mit dem er hoffte, sich wehren zu können: Steine. Er warf dem Untier alle Steine entgegen, die er finden konnte. Sie prallten von dem massigen Körper ab wie von einer Wand aus Fell. Die Steine hatten das Wesen nicht aufhalten können. Was Hakon rettete, war ein glücklicher Zufall. Er bekam zwar einen Schlag mit einer Pranke ab, fiel dann aber in eine Schlucht, in der der Aufprall von Büschen aufgefangen wurde. Von der Begegnung blieben ihm nur ein paar Beulen und Schürfwunden.
    Und die Angst vor dem Wesen der Unterwelt.
    Aber der Graf war kein solches Wesen – er war ein Mensch! Ein Mensch, den Hakon töten konnte, den er töten musste!
    Hakon suchte nach einem weiteren Stein. Die meisten waren Kiesel, die man zur Befestigung des Hafenufers aufgeschüttet hatte und die unter den Sachsen kaum Schaden anrichteten. Endlich bekam er einen faustgroßen Brocken zu fassen, hob ihn auf, zielte und warf. Doch der Graf, der vor der Seherin zurückgewichen war, hielt sich einen Schild über den Kopf, den er einem Dänenkrieger abgenommen hatte, und so prallte der Stein nur dagegen.
    Es war Hakon gewesen, der den ersten Stein geworfen hatte. So wie damals bei der Begegnung mit dem zottigen Untier griff er nach Steinen. Und Steine konnten tödlich sein. Daher war sich Hakon die ganze Zeit darüber im Klaren, dass auf der Brücke nicht nur die Soldaten und ihre Führer, sondern auch die Seherin und ihre Kinder verletzt werden konnten.
    Als immer mehr Schaulustige seinem Beispiel gefolgt waren, wuchs seine Sorge um die Verurteilten. Von ihnen war zwar bislang niemand getroffen worden, aber sie schwebten wie alle anderen in Lebensgefahr.
    Unterdessen rückte die Menge weiter vor und zwang die sächsischen und dänischen Soldaten zur Brücke zurück. Die Männer des Grafen in ihren roten Mänteln hatten ihre Schwerter und Lanzen auf die Bewohner Haithabus gerichtet. Aus Angst vor der gewaltigen Übermacht wagten sie es jedoch nicht, die Waffen einzusetzen. Von den Dänenkriegern ganz zu

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